Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

08.01.13, 09:31 | 'Der Vollstaendigkeit halber'

Was man so macht, im Urlaub.

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Die beißende Kälte durch den alten blauen Pelz, an der Weste vorbei durch den Pullover. Dann die Behaglichkeit der neuen Jacke, voller Technik, mit perfektem Schnitt, geschlossen genau bis zum Kinn, mit weiten Schultern und engen Ärmeln. Alle zehn, zwölf Jahre darf man doch eine neue Jacke kaufen, denke ich. Oder man bekommt sie irgendwann geschenkt.

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Fünf ist früh.

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Einen Tag verschlafen.

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Rasiert zur Hochzeit des Freundes. Anzug und Krawatte, und in der Kirche schieße ich ein einziges Bild. Wenn ich mich umhöre, bin hier ich eine Stütze des Glaubensbekenntnisses. Da weiß keiner mehr ein Amen, ein Aufstehen, ein Gebet. Die Rituale sind verloren, denke ich, und vielleicht ist das würdig und recht.

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Wir eröffnen die Bar, prosten uns zu. Ist Dir schon aufgefallen, daß wir nur miteinander getrunken haben, die ganzen Jahre über?

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Er zeigt mir ein Foto seines Arbeitsplatzes, einer Toilette mit Laptoptisch und Kaffeekanne. Und manchmal wäre ich gern so frei.

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Hier und dort, und nur weil es einem hier so gefällt, daß man alles tun würde, könnte man das gleiche dort nicht tun. Es sind die anderen, Dude.

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Da ruft er an, wie ich verkatert und verschlafen vor dem Hotel sitze und auf die Frühstückenden warte. Schreib die Stunden auf! sagt er, und das ist auch so einer, der um die anderen weiß. Darum, was wo geht. Er fragt um das Richtige, und das andere tut er selbst.

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Von dem ganzen Geld könnte ich Urlaub machen, sage ich lachend am Frühstückstisch, und dabei mache ich doch nie Urlaub!

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Nur Regen, kein Frost. Kein Forst.

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Das schnelle Hin und Weg. Keine Zeit, nur schnüffeln. Kein Annähern.

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Ach Mädchen, denke ich, steht ihr wirklich so oft vor dem Spiegel? Ihr seid doch hübsch, alle und ehrlich, und nervt doch so mit eurer neidigen Körperlichkeit. Wer treibt euch so, oder seid ihr das am Ende selbst?

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Eure Geschenke, und meine. Spielereien, die mich nicht rühren.

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"Wütend stürmte ich voran", und das Buch zeige ich allen.

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Eine kleine Backform, eine Tastatur. Kommt schon noch.

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Wenn man sich einfach nicht um Weihnachten kümmert. Um nichts eigentlich.

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Die wunderbaren Stunden zu zweien in der Werkstatt, um einen verbogenen und zerdellten Güllemixer herum.

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Mittag mit den Bauerntöchtern. Beratungsgespräche und verschlafene Partygeschichten. Euer Lachen, das mag ich sehr.

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Komm zum Kaffee vorbei, sagt er, und das sagt er schon länger, und reden würden wir gern, aber wir sind so zwei, die das nie machen, nie schaffen, und wissen das beide.

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Sind fünf Jahre eine Welt? Eine Unendlichkeit?

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Ich rede mit wenigen beim Klassentreffen. Mit den richtigen wenigen. Schade, sage ich, daß wir uns so selten sehen. Aber die richtigen sind sie ja auch, weil sie gehen mussten.

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Ich moderiere die Spiele, beruhige die Schwester, klebe ein Puzzle zusammen und trinke morgens um halb sieben noch eins mit der Mutter der Braut.
Der Weg in meine Pension dauert ungefähr zehn Waka Waka Hey Heys.

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Currywurst um Mitternacht!

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Du gefällst mir.

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Wenn Du eine Meinung hören willst, schlägt er mir schwer auf die Schulter, dann komm zu mir. Und er ist so einer, zu dem ich gerne komme. Verlobt ist er, sagt er stolz, und ich werfe noch ein paar Scheite in den Ofen und beglückwünsche die Freundin.

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Das Häufchen Elend mit den glasigen Augen. Haltung, sage ich dann doch nicht, und daß ich so oft zu den hellen Fenstern geschaut und mich gefreut habe für die beiden.

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Und dann folge ich einem Kinderwagen. Trage ihn die Treppen zum Haus hoch und verspreche mir selbst einen ebenerdigen Eingang, sollte ich einst ein Haus und Kinder... Der Schmerz ist stechend und frisst, was ich sagen wollte. So stehe ich im Eingang, und der Freund drückt mir das Bündel in die Hand. Ein Röcheln, ein leises Schnarchen, und das macht den Schmerz so groß und so erträglich, daß ich irgendwas möchte, ich weiß nur nicht was. Stattdessen stehe ich stumm da und versuche, warm zu sein, ganz Ohr und ganz Herzschlag, denn näher werde ich dem nie kommen.

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Wir sitzen dann im Wohnzimmer und zerreden den Wahnsinn des Autobaus, und als seine Frau nach Hause kommt, stehen nur vier Flaschen auf dem Tisch, und wir sind charmant und verfressen, unsere Hände treffen sich im Gewühl der zerbröselnden Salzstangen, und als ich gehe, liegt er längst oben und schläft neben seinem Sohn.

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Wie euch die Kleinigkeiten nichts sind, weil sie sich häufen. Wie sie mir alles sind, weil sie so selten sind.

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Der stille Neujahrsmorgen.

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In blauen Handschuhen.

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Es ist in Ordnung, hoffnungslos zu sein.

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Die gemeinsame Wanderung allein. Auch hier Deine Zähne in allem, was mir schön und wichtig ist. Die Zeit schleift langsam und mit feinem Korn.

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Und die charmanteste Abfuhr der Welt.

Rauchzeichen




strelnikov   |   08.01.2013, 11:15   |  
Die charmanteste Abfuhr der Welt. Das könnte man noch mal Erörtern. Ansonsten: Ein Gutes Neues!

texas-jim   |   08.01.2013, 12:20   |  
Auch Ihnen ein gutes Neues noch!
Mitrauchen
 

mark793   |   08.01.2013, 11:38   |  
Da weiß keiner mehr ein Amen, ein Aufstehen, ein Gebet. Die Rituale sind verloren, denke ich, und vielleicht ist das würdig und recht.

Habe mich bei ähnlichen Überlegungen ertappt als meine Frau und ich an Silvester in einen Jahresendgottesdienst reingeraten sind, weil wir eigentlich nur die Kirche angucken wollten und dann halt doch drinblieben, weil sich draußen auch nichts anderes aufdrängte. Das war in den rheinisch-katholischen Kernlanden nahe der niederländischen Grenze, und auch wenn es da anscheinend keinen eklatanten Mangel an Ministranten und anderem Jungvolk in der Gemeinde hat, ist es doch nicht zu übersehen, dass der Ritus mit seinen Wechselgesängen und den Aufsteh- und Hinknie-Abfolgen vor allem eine Angelegenheit der alten Leute ist.

Für mich, der ich immerhin damit noch aufgewachsen bin und das alles noch irgendwo abgespeichert habe, ist das eigentümliche Mischung aus Nähe und Distanz. Schwer in Worte zu fassen.

texas-jim   |   08.01.2013, 13:22   |  
Es hat mich schon sehr gewundert, daß ausgerechnet ich, der nicht einmal zu Weihnachten in die Kirche geht, da zur Stütze werden konnte.
Die Rituale mag ich eigentlich, ich mag das Gemurmel im Chor mit den anderen. Und ich mochte auch die Trauungsfeier sehr. Der Pfarrer ist ein naher Verwandter des Bräutigams und hat sich so über die Hochzeit gefreut. Und dann all die Freunde in der Kirche. Es war doch sehr schön, und ich habe nach Kräften gesungen und gebetet. Auch wenn es nur für das Erlebnis war.

mark793   |   08.01.2013, 16:57   |  
Speziell bei kirchlichen Trauungsfeiern ist mir eklatanter Mangel an religiös-kultischer Allgemeinbildung bei den Mitfeiernden bisweilen auch schon aufgefallen. Ich las von Priestern, die darob schier verzweifeln. War mal ein pro & contra-Thema in der chrismon-Beilage der "Zeit", wenn ich mich recht erinnere. Einer plädierte dafür, unter diesen Umständen nicht für die Zeremonie zur Verfügung zu stehen, der Gegenpart meinte, man müsse die Leute eben da abholen wio sie sind. Tja.

texas-jim   |   09.01.2013, 11:29   |  
Da sagen Sie was: Allgemeinbildung. Ich halte das auch für Allgemeinbildung, zu wissen, wie ein Gottesdienst oder eine andere Feier abläuft. Dieses Wissen darf man also voraussetzen.
Was man aber tun soll, um mit dem Nichtwissen umzugehen? Verweigerung ist verständlicher Frust, aber sicher nicht zielführend. Die Leute abzuholen finde ich besser. Ich habe zum Beispiel schon Priester erlebt, die einer zögernden Gemeinde nach einem tollen Gesangsstück gesagt hatten, sie seien nicht der Meinung, daß in einer Kirche nicht geklatscht werden dürfe. Oder Priester, die der Gemeinde in Nebensätzen oder durch Gesten das Aufstehen und Setzen bekunden. Dazu setzen wir uns. Dazu stehen wir alle auf. Jetzt beten wir in Stille. Unaufgeregt übernehmen sie da Funktion als Leithammel. Das mag ich, auch wenn es mich ein wenig beschämt. Weil Allgemeinbildung, siehe oben.

mark793   |   09.01.2013, 15:39   |  
Es war auch hauptsächlich der Allgemeinbildungs-Aspekt, der für uns den Ausschlag gab, Töchterlein trotz ihrer Ungetauftheit zum Religionsunterricht anzumelden und sie nicht von Schülergottesdiensten, dem evangelischen Kinderchor und dergleichen fernzuhalten.

texas-jim   |   10.01.2013, 10:49   |  
Ich glaube auch, daß Lernen allein die Kinder noch nicht verdirbt.
Ich bin heute noch froh um den Religionslehrer, der uns flegelhafte Halbwüchsige wie Erwachsene behandelte, mit uns die Abtreibung diskutierte und uns gleichzeitig die Kriterien für die Unfehlbarkeit des Papstes (viel eingeschränkter, als man glaubt, und in etwa vergleichbar mit der "Allmacht" eines direkten Vorgesetzten) auswendig lernen ließ.
Mit dem nächsten, der uns von Liebe und Güte und Engeln vorschwafelte und die "Beziehung" zwischen sich und mir verbessern wollte, hatte ich wesentlich mehr Probleme.
Mitrauchen
 

huehnerschreck   |   08.01.2013, 12:11   |  
"Die Zeit schleift langsam und mit feinem Korn." - und deswegen dauert es bisweilen sehr, sehr lang, bis die tiefen spuren keine schneidenden kanten mehr haben. und sie bleiben, die tiefen spuren, bleiben - und machen uns zu denen, die wir sind.

ein gesundes neues wünsche ich Ihnen. möge es besser werden als 2012.

texas-jim   |   08.01.2013, 13:23   |  
Auch Ihnen ein gutes Neues. Ich hoffe ja, daß es besser wird.
Mitrauchen
 

die stille   |   08.01.2013, 16:42   |  
Hallo Jim,

ich lese mit Begeisterung, Deine Beobachtungen und feinsinnigen Beschreibungen, Dokumentationen von Ereignissen. Sicher weißt Du längst, dass Du begabt bist zum Schreiben und dass Du ein tiefgründiger, intelligenter, liebevoller Mensch bist. Für alle Fälle das nicht, wollte ich das erwähnen. :)

Ich wünsche Dir ein schönes, neues Jahr mit vielen schönen Erlebnissen, Gesprächen, Begegnungen. Und mir wünsche ich noch viele Einträge Deinerseits dieser Art.

Liebe Grüße
die stille

texas-jim   |   09.01.2013, 11:30   |  
Oh, haben Sie vielen Dank für das Lob.
Im Dieseldunst stehe ich seit zweieinhalbtausend Tagen oder seit heute vor sechs Jahren. Scheint, als würde es noch weitergehen.
Mitrauchen