... Vorwärts fahren
02.05.22, 17:36 | 'Heller als tausend Sonnen'
Ich bin von einem unverarbeiteten Tag ermüdet, mit gedämpfter Hintergrundaufregung einer langen Reise. Wie immer kurz der Gedanke, ich könnte es ja auch gelassen haben. Und wie immer fällt dieser Gedanke federleicht von mir ab, sobald ich ihn gedacht habe. Ein Glück, denke ich dann, und ein Glück ist es auch, daß ich noch nicht weiß, was ich in meine große Reisetasche zu packen vergessen habe. Stattdessen fällt mir ein, wie ich sie einst geschenkt bekam im Tausch gegen eine kleinere, halb zerfetzte Reisetasche in lila, die man mir nicht mehr zumuten wollte, oder sich selbst mit ihr und mir. Ich bewundere die Ruhe im Zug, die so gar nichts mehr mit dem Geratter und Geschaukel zu tun hat, die ich als studentischer Pendler noch erfahren habe. Die Fenster lassen sich nicht mehr öffnen, und im Tausch dafür ist der Wagen nun klimatisiert. Bei jedem Tausch, denke ich, muß man auch etwas hergeben. Und vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht. Und so tausche ich auch einen gewonnenen Tag gegen eine Nachtfahrt ein, die ich nun antrete. In Nürnberg habe ich zwei Stunden Aufenthalt, und so zerre ich meine alte Tasche hinter mir her, meinen kleinen Rucksack auf dem Buckel, und mache eine sehr deprimierende Erfahrung mit dem ansässigen amerikanischen Schnellimbiss. Es gibt dort keine Toiletten. Das ist vom Ende gedacht, wie man so schön sagt, denn wer hielte sich heute noch an das ungeschriebene Gesetz, daß nur zur Toilette gehen möge, wer auch gegessen habe. Ich würge trotzdem ein Weilchen am amerikanischen Schnellfraß, der mich ebenso zuverlässig mit schlechtem Magen wie mit schlechter Laune hinterlässt. Unzufrieden stelle ich böse Betrachtungen über den Menschen als reinen Konsumenten an, der an Bildschirmen bestellt, mit dem Telefon bezahlt und selbst beim Hinunterschlingen keine zweite Hand benötigen mag. Ich bin dann doch sehr weit weg von diesen Menschen, die ich um mir sehe. Von dem, was sie tragen, von der Sprache, die sie sprechen, von allem, was sie bewegen und antreiben mag. Ich verlasse den Bahnhof in genau dieser zurückgezogenen, abweisenden Stimmung, und als mich ein Halbstarker so eben noch nicht anrempelt, überlege ich, ob ich damit allen Ärger nur an mich ziehe, statt ihn samt der Menschheit abzustoßen. Die kleinen Rollen meiner Tasche klappern über Steinböden, Beton, Straßenbahnschienen und Fahrbahnmarkierungen. Irgendwann kehre ich um und setze mich auf den Bahnsteig. Es ist frisch in diesem Frühling, und so nehme ich meinen Rucksack auf den Schoß und krame eben nach dem Taschenmesser, als mich eine mahnende Durchsage informiert, daß der Konsum von Alkohol auf den Bahnsteigen nicht erlaubt wäre. Ich horche ein Weilchen, doch die Ansage wiederholt sich nicht. Sie scheint also mir gegolten zu haben, und so lasse ich das Bier im Rucksack und werde es eine Woche später wieder mit nach Hause fahren. Aber das weiß ich ja auch noch nicht.
Irgendwann sitze ich dann auch im nächsten Zug, auf einem Notsitz im Gang, die Tasche zwischen den Füßen auf dem Boden, den Rucksack auf dem Schoß. Immer wieder nicke ich ein, immer wieder schaue ich auf dem Telefon nach der Uhrzeit, und mit steifem Nacken vergeht die Nacht. Nur den steifen Nacken, den hinterlässt sie mir. Irgendwo hinter Berlin stehe ich nun also vor einem Bahnhof an einer Haltestelle, und ich wundere mich ein wenig, daß ich mir so gar nicht verloren vorkommen mag. Ich habe drei Fahrkarten in der Tasche, von denen keine schon oder noch gültig ist. Ich kenne niemanden hier. Hier ist nicht mein Ziel, und doch. Ich scheine - neben ein paar Kleidungsstücken, aber das weiß ich ja noch nicht - auch meine Verlorenheit verloren zu haben. Ich bin einfach hier, und ich werde bald woanders sein. Freiheit ist ein seltsames Gefühl, denke ich, doch da taucht schon ein staubiger Wagen auf, und für eine Woche habe ich nun keinen Kopf mehr, um mir einen Kopf zu machen. Außer natürlich über Sandböden und den Ackerbau darin, über den Umgang mit lebenden und toten Tieren, über Traktoren und die verfluchte, kleine große Politik. Und irgendwann in dieser Woche sage ich ihn tatsächlich, den kleinen großen Satz, der mir irgendwann zu diesem Landstrich eingefallen ist. Da sitzen wir vor unseren Flaschen, nebeneinander wie stets, und ich schaue entweder durch das große Fenster vor mir über den Hausacker bis zum windzerzausten, gebeugten Wäldchen, aus dem sich abends das Wild bis vors Fenster schleicht, oder ich schaue durch das große Fenster neben mir, das im Wind manchmal ein wenig im Rahmen knarzt, über die Pferdekoppel hinab auf den Sandweg und dahinter ins Schilf, wo der Seeadler sitzen muß, und über den Bodden hinweg, wo auf der anderen Seite rote Lichter blinken. Ich sage das also, ohne aufzusehen, weil ich hier meinen Worten nicht hinterherschauen muß, nicht auf sie aufpassen, ihnen keine Richtung mehr geben muß. Ich sage das in meinem ganzen Abbild aus Staub und Dreck und blutiger Hand, aus meinem müden Körper und meiner ruhigen Seele heraus, daß ich heute so wie jedes Jahr erneut ein Stück meines Herzens hier im Sand vergraben habe. Ich weiß nun schon, was ich vergessen habe, und daß ich auch eine Woche ohne auskommen kann. Ich weiß noch nicht, daß dieses vergrabene Stück Herz nach meiner Rückkehr auf recht genau drei Kilo beziffert werden kann, und so kann ich noch gar nicht drüber lachen, daß ausgerechnet ich so ein großes Herz haben soll.
Irgendwann sitze ich dann auch im nächsten Zug, auf einem Notsitz im Gang, die Tasche zwischen den Füßen auf dem Boden, den Rucksack auf dem Schoß. Immer wieder nicke ich ein, immer wieder schaue ich auf dem Telefon nach der Uhrzeit, und mit steifem Nacken vergeht die Nacht. Nur den steifen Nacken, den hinterlässt sie mir. Irgendwo hinter Berlin stehe ich nun also vor einem Bahnhof an einer Haltestelle, und ich wundere mich ein wenig, daß ich mir so gar nicht verloren vorkommen mag. Ich habe drei Fahrkarten in der Tasche, von denen keine schon oder noch gültig ist. Ich kenne niemanden hier. Hier ist nicht mein Ziel, und doch. Ich scheine - neben ein paar Kleidungsstücken, aber das weiß ich ja noch nicht - auch meine Verlorenheit verloren zu haben. Ich bin einfach hier, und ich werde bald woanders sein. Freiheit ist ein seltsames Gefühl, denke ich, doch da taucht schon ein staubiger Wagen auf, und für eine Woche habe ich nun keinen Kopf mehr, um mir einen Kopf zu machen. Außer natürlich über Sandböden und den Ackerbau darin, über den Umgang mit lebenden und toten Tieren, über Traktoren und die verfluchte, kleine große Politik. Und irgendwann in dieser Woche sage ich ihn tatsächlich, den kleinen großen Satz, der mir irgendwann zu diesem Landstrich eingefallen ist. Da sitzen wir vor unseren Flaschen, nebeneinander wie stets, und ich schaue entweder durch das große Fenster vor mir über den Hausacker bis zum windzerzausten, gebeugten Wäldchen, aus dem sich abends das Wild bis vors Fenster schleicht, oder ich schaue durch das große Fenster neben mir, das im Wind manchmal ein wenig im Rahmen knarzt, über die Pferdekoppel hinab auf den Sandweg und dahinter ins Schilf, wo der Seeadler sitzen muß, und über den Bodden hinweg, wo auf der anderen Seite rote Lichter blinken. Ich sage das also, ohne aufzusehen, weil ich hier meinen Worten nicht hinterherschauen muß, nicht auf sie aufpassen, ihnen keine Richtung mehr geben muß. Ich sage das in meinem ganzen Abbild aus Staub und Dreck und blutiger Hand, aus meinem müden Körper und meiner ruhigen Seele heraus, daß ich heute so wie jedes Jahr erneut ein Stück meines Herzens hier im Sand vergraben habe. Ich weiß nun schon, was ich vergessen habe, und daß ich auch eine Woche ohne auskommen kann. Ich weiß noch nicht, daß dieses vergrabene Stück Herz nach meiner Rückkehr auf recht genau drei Kilo beziffert werden kann, und so kann ich noch gar nicht drüber lachen, daß ausgerechnet ich so ein großes Herz haben soll.
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