... Vorwärts fahren
23.04.17, 16:37 | 'foire aux questions'
Ich muß in großen Sprüngen denken, denn die kleinen Schritte sind nur dazu da, zu erledigen, fertig zu werden, sie sind nur Arbeit, nur notwendig, sie geben mir keine Richtung vor. Und die Kinderträume, ach Träume, das Kind wusste doch nichts von mir und vom Jetzt.
23.04.17, 16:07
Die Karte von der Beerdigung meiner Großmutter habe ich an meinen Schrank geklebt. Dort hängen schon viele Post- und Konzertkarten, der ganze Schrank ist eine große Pinnwand, die selbst den Türspiegel langsam und wunderschön überwuchert. Die Karte ist aufgeklappt, und wenn ich nun am Schreibtisch sitze, schaut sie mir bei der Arbeit zu und lächelt. Sie lächelt in dem Tonfall, und ja, das meine ich genauso, den ich so gut kannte, der wissend und wohlmeinend war, und ein klein wenig spöttisch vom Sockel des großen Alters und des durchlebten Lebens auf die Jugend herabsah, die sich so ernst nahm, wo meine Oma doch einen Krieg überlebt und einen Stall voller Kinder großgezogen hatte. Es ist ein sehr ruhiges Lächeln, still und überlegen und mit einer großartigen Kraft, die sich bei jedem Seitenblick ein ganz klein wenig auch auf mich überträgt. Das Gefühl, geliebt und anerkannt zu werden. Das Gefühl, daß ich es schon richtig machen werde, daß ich schon durchkommen werde durch den Tag, die Woche, das Jahr, das Leben. Vertrauen in mein Leben auf der Grundlage ihres Lebens.
Ich denke noch an unsere letzte Begegnung, kurz nach Neujahr. Ein gutes Neues habe ich gewünscht, und meine Tante wollte schon nach draußen gehen, um uns ungestört reden zu lassen. Das haben wir gar nicht gebraucht, wir beide, und für Kuchen hatte ich gar keinen Platz im Mund. Schließlich mußte ich die ganze Zeit über leer und trocken schlucken. Ihr Lächeln hat mich gewärmt und getragen, und eine Woche später habe ich es zum letzten Mal gesehen, als sie schon gestorben war, in ihrem Wohnzimmer lag. Ich habe den Atem angehalten und auf ihre Atemzüge gewartet, und dann habe ich geschnieft und geschluchzt und mich zusammengerissen, bis die Knochen krachten, die Zähne klapperten und die Augen tränten. Auch da noch hat sie so gelächelt. Aufmunternd, wissend, vertrauend, als könne mir nie etwas geschehen. Dieses Gefühl von Schutz und Vertrauen in die eigenen Kräfte, das möchte ich mir bewahren. Das hast Du mir gegeben, Oma. Du hast zugesehen, wie einer Deiner Enkel eben nicht in die große Welt hinausging, sondern seine kleine Welt groß machte. Der in schmutzigen Hosen und Stiefeln auftauchte, bärbeißig und bäuerlich, und der auch so dahergeredet hat, schmutzig und bissig und geprägt von dem, was er für richtig hielt.
"Wo bist Du denn gerade?" hast Du gefragt, "Wo zieht es Dich hin", und ich habe den Kopf geschüttelt, ich weiß es ja nicht. Ich bin nicht dort, wohin es mich zieht, und mich zieht es dahin, wo ich nicht bin. "Einmal muß ich noch umziehen, demnächst", hast Du gesagt, und da konnte ich erst recht nichts sagen, nur nicken und lächeln und meinen Kaffee austrinken.
Da warst Du schon auf dem Weg. Du hast langsam losgelassen, Du hast uns auf den Weg gebracht, uns unsere Leben mitgegeben als Geschenk. Du hast uns allen vertraut, daß wir das schon irgendwie hinbekommen, das Leben. Wir haben uns die Hände gegeben zum Abschied, weil ich umarmen so nicht kann.
Als ich Deine Hände zum letzten Mal berührte, waren sie schon kalt. Auf dem Friedhof stapfe ich dann durch den Schnee, ein paar Tage später, und schlucke mein Geschrei hinunter. Tränenblind fahre ich später zurück in die Stadt. In den Wochen danach fahre ich oft zurück, ich reiße die Küche aus Deiner Wohnung und schmettere die Reste in einen Container. Der Teppichboden, die Tapeten. Ich arbeite Tage und Nächte, ich weiß nicht wie und warum. An den anderen Tagen schreibe ich meine Dissertation zu ihrem Ende, gewidmet all denen, die mich getragen haben. Über mir bleibt Deine Frage stehen: Wo zieht es Dich hin? Das hallt in mir nach, da muß ich eine Antwort suchen. Dein Vertrauen, Dein Lächeln, Dein Mut helfen mir dabei, Oma. Hab vielen Dank dafür, hab vielen Dank für alles. Und einen Platz für Deine Wanduhr finde ich auch noch.
Hab es gut, Oma Irene. Wie fremd Dein Taufname klingt, wo Du zeit meines Lebens nur die Oma gewesen bist. Du bist als die Letzte von meinen Großeltern vorausgegangen.
Wherever you may roam, schreibe ich hier normalerweise. Du hast Dir jedoch etwas anderes ausgesucht, das ich hier wiedergeben möchte:
Wenn ihr an mich denkt, seid nicht traurig.
Erzählt lieber von mir und traut euch zu lachen.
Lasst mir einen Platz in eurer Mitte,
so wie ich ihn im Leben hatte.
* am 10. Mai 1927, † am am frühen Morgen des 11.Januar 2017
Ich denke noch an unsere letzte Begegnung, kurz nach Neujahr. Ein gutes Neues habe ich gewünscht, und meine Tante wollte schon nach draußen gehen, um uns ungestört reden zu lassen. Das haben wir gar nicht gebraucht, wir beide, und für Kuchen hatte ich gar keinen Platz im Mund. Schließlich mußte ich die ganze Zeit über leer und trocken schlucken. Ihr Lächeln hat mich gewärmt und getragen, und eine Woche später habe ich es zum letzten Mal gesehen, als sie schon gestorben war, in ihrem Wohnzimmer lag. Ich habe den Atem angehalten und auf ihre Atemzüge gewartet, und dann habe ich geschnieft und geschluchzt und mich zusammengerissen, bis die Knochen krachten, die Zähne klapperten und die Augen tränten. Auch da noch hat sie so gelächelt. Aufmunternd, wissend, vertrauend, als könne mir nie etwas geschehen. Dieses Gefühl von Schutz und Vertrauen in die eigenen Kräfte, das möchte ich mir bewahren. Das hast Du mir gegeben, Oma. Du hast zugesehen, wie einer Deiner Enkel eben nicht in die große Welt hinausging, sondern seine kleine Welt groß machte. Der in schmutzigen Hosen und Stiefeln auftauchte, bärbeißig und bäuerlich, und der auch so dahergeredet hat, schmutzig und bissig und geprägt von dem, was er für richtig hielt.
"Wo bist Du denn gerade?" hast Du gefragt, "Wo zieht es Dich hin", und ich habe den Kopf geschüttelt, ich weiß es ja nicht. Ich bin nicht dort, wohin es mich zieht, und mich zieht es dahin, wo ich nicht bin. "Einmal muß ich noch umziehen, demnächst", hast Du gesagt, und da konnte ich erst recht nichts sagen, nur nicken und lächeln und meinen Kaffee austrinken.
Da warst Du schon auf dem Weg. Du hast langsam losgelassen, Du hast uns auf den Weg gebracht, uns unsere Leben mitgegeben als Geschenk. Du hast uns allen vertraut, daß wir das schon irgendwie hinbekommen, das Leben. Wir haben uns die Hände gegeben zum Abschied, weil ich umarmen so nicht kann.
Als ich Deine Hände zum letzten Mal berührte, waren sie schon kalt. Auf dem Friedhof stapfe ich dann durch den Schnee, ein paar Tage später, und schlucke mein Geschrei hinunter. Tränenblind fahre ich später zurück in die Stadt. In den Wochen danach fahre ich oft zurück, ich reiße die Küche aus Deiner Wohnung und schmettere die Reste in einen Container. Der Teppichboden, die Tapeten. Ich arbeite Tage und Nächte, ich weiß nicht wie und warum. An den anderen Tagen schreibe ich meine Dissertation zu ihrem Ende, gewidmet all denen, die mich getragen haben. Über mir bleibt Deine Frage stehen: Wo zieht es Dich hin? Das hallt in mir nach, da muß ich eine Antwort suchen. Dein Vertrauen, Dein Lächeln, Dein Mut helfen mir dabei, Oma. Hab vielen Dank dafür, hab vielen Dank für alles. Und einen Platz für Deine Wanduhr finde ich auch noch.
Hab es gut, Oma Irene. Wie fremd Dein Taufname klingt, wo Du zeit meines Lebens nur die Oma gewesen bist. Du bist als die Letzte von meinen Großeltern vorausgegangen.
Wherever you may roam, schreibe ich hier normalerweise. Du hast Dir jedoch etwas anderes ausgesucht, das ich hier wiedergeben möchte:
Wenn ihr an mich denkt, seid nicht traurig.
Erzählt lieber von mir und traut euch zu lachen.
Lasst mir einen Platz in eurer Mitte,
so wie ich ihn im Leben hatte.
* am 10. Mai 1927, † am am frühen Morgen des 11.Januar 2017
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