Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

14.03.16, 10:48 | 'Rage within the machines'
Ich habe einige Jahre im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Wahlbefragungen durchgeführt. Das war immer ganz nett, man hatte meist interessante Partner und konnte eine Wahl den ganzen Tag über beobachten. Wer da so kam, wie die Auszählung funktionierte, und wie reguliert überhaupt so eine Wahl ist. Da wird an alles gedacht, und selbst die Anweisungen für uns mit unseren Fragebögen waren ellenlang. Ich habe leider keinen der Bögen aufbewahrt, aber alle Fragen drehten sich darum, den Wähler einzuordnen. Alter, Familienverhältnisse, das Abstimmungsverhalten bei der letzten Wahl, und es wurde ein Turnus vorgegeben, nach dem die Wähler befragt werden mussten. Alle halbe Stunde verschwand einer, um auszuzählen und die Ergebnisse am Telefon durchzugeben. Daraus wurden die Schätzungen aus irgendwelchen Modellen hochgerechnet und um Punkt sechs veröffentlicht. Ich blieb stets noch zur Auszählung und gab deren Ergebnis am Telefon durch. Das dauerte unterschiedlich lang. Bei kleinen Wahllokalen war in zwanzig Minuten gezählt, und dann wurden noch die Ergebnisse der anderen Lokale im Ort abgerufen. In größeren Städten haben wir auch mal zwei Stunden gewartet, bis überhaupt ausgezählt war. Und ich habe mich immer gefreut, wenn "meine" Hochrechnung um sechs das amtliche Ergebnis gut darstellen konnte. Bei den Europawahlen waren wir mal innerhalb einer Abweichung von 0,1%.
Seitdem beobachte ich Wahlen anders. Und gestern abend saß ich also vor dem Fernseher. Die erste Hochrechnung zeigte die AfD bei 10,8%, wenn ich mich recht erinnere. Das stieg über zwei Stunden hinweg einigermaßen konstant an, bis sie gegen acht an den 15% kratzte und kurz darunter stehenblieb. Heute zeigt die FAZ sogar 15,1% an.
Einen solchen Fehler in der Hochrechnung habe ich noch nie gesehen. Entweder haben also die Modelle bei einer neuen Partei dieser Größenordnung völlig versagt. Das kann durchaus sein, denn die Statistik muß ja bei einer Befragung von 10% bis 20% der Wähler (abhängig von der Wahl) in nur wenigen ausgewählten Lokalen einiges ausgleichen. Dazu werden die Begleitfragen verwendet, denke ich. Wenn also beispielsweise die Katholiken um die vierzig in einem Ort so und so wählen, wird das vielleicht auf andere Orte extrapoliert, je nachdem, wie viele Katholiken dort wohnen. Ich kann mir da viel vorstellen, ich weiß es aber nicht.
Ich kann mir bei einer Abweichung von fast 40% zur ersten Hochrechnung noch einen zweiten Grund vorstellen. Die Befragten haben nicht wahrheitsgemäß geantwortet. Die Befragung ist anonym, der Fragebogen wird vom Befragten allein ausgewertet, es steht ein kleiner Rückzugsraum zur Verfügung, überall steht der Name des Senders drauf, und meiner Erfahrung nach war die Offenheit der Wähler sehr groß, ebenso wie das allgemeine Interesse an einer solchen Befragung. So gab ich oft Befragungszettel an Interessierte aus, die den einfach mal sehen und mit nach Hause nehmen wollten. Lediglich ältere Frauen weigerten sich oft oder wollten, daß ihre Männer die Bögen ausfüllen sollten. Das mußten wir ablehnen, das Alter und Geschlecht der Verweigernden schätzen, und die Schätzung einwerfen. Ist die Abweichung zwischen Hochrechnung und Ergebnis speziell bei der AfD ein Zeichen dafür, daß die Befragten nicht wahrheitsgemäß geantwortet haben? Und ist dies wiederum ein generelles Mißtrauen gegenüber den Medien? Oder Ausdruck einer gefühlten Meinungsdiktatur - daß man aus irgendeinem Grund eben AfD wählt, es aber verheimlicht? Daß da eine Menge an Menschen ist, die ihre Ansichten überhaupt nicht mehr durch eine der bisherigen Parteien vertreten fühlen, sich aber nicht trauen, ebendiese Ansichten zu vertreten? Ich befürchte genau das, und ich halte genau das für die eigentliche Katastrophe dieser Wahl. Und wenn ich noch einen Schritt weitergehe, dann ist die AfD nicht der Grund der Katastrophe, sondern das Verunglimpfen und Verharmlosen von Ansichten und Ängsten durch Medien und Politik.
Wenn das einzige Argument gegen einen Landtagskandidaten die Kommentare "Du Hübscher" und "Du Süßer" unter seinem privaten Facebook-Profil sind, dann habt ihr wirklich keine inhaltliche Kritik gefunden. Wenn eure einzige Wahlwerbung nicht darin besteht, daß ihr eure bisherige Regierungspolitik erklärt und für gut befindet und dafür Unterstützung wollt, sondern nur darin, bloß nicht die "Bösen" zu wählen, dann ist das kein Argument für euch. Ihr seid also nicht nur schuld am Erstarken der AfD, ihr seid auch noch schuld am Verstummen des politischen Diskurses, an der Wut derer, die sich ungehört, unverstanden und unterdrückt fühlen. Die sind nicht das Pack. Ihr seid es. Und ich könnte kotzen vor euch.

Rauchzeichen




texas-jim   |   14.03.2016, 11:34   |  
Nachtrag:
Der Artikel mit der Beschreibung des Facebook-Profils nennt die Kommentare, meine Erinnerung war nicht ganz exakt.
Hier beispielhaft die Wahlaufforderung Nils Schmids, zitiert durch seine Partei bei Twitter. Als bisherige Regierungspartei habe ich speziell von denen sehr wenig Programm und Ideen, dafür eine Menge Bösartigkeit gelesen.

texas-jim   |   14.03.2016, 13:41   |  
Noch ein Nachtrag:
Die FAZ nennt hier auch die Möglichkeit, daß Sympathien für die AfD verborgen werden. Dazu den Effekt, sich in einer großen Zahl wiederzufinden. Der Artikel befasst sich allerdings mit Prognosen vor der Wahl, nicht wie ich mit den Hochrechnungen am Wahltag.

mark793   |   14.03.2016, 14:34   |  
Ah, interessant, mal ein making of exit polls zu lesen. Ich hatte ja zu Studi-Zeiten für die Forschungsgruppe Wahlen telefoniert (und auch an der Uni zwei Seminare zum Thema beim damaligen FGW-Chef Wolfgang Roth belegt), aber trotz einschlägiger Theorie und Praxis ist es mir immer ein bisschen mysteriös geblieben, wie das zugeht mit der Repräsentativität von Zufalls-Stichproben und wieso die Abweichungen nicht viel größer sind als sie in der Regel sind.

mark793   |   14.03.2016, 14:49   |  
Im Übrigen greift die Frage nach der AfD eine große demoskopische Streitfrage aus den Siebzigern auf, als es angeblich völlig uncool war, sich zur CDU zu bekennen. Die damalige Chefin von Allensbach, Elisabeth Noelle-Neumann konstatierte eine medial verstärkte Schweigespirale zulasten der Union, ausgehend von der Beobachtung, dass letztlich doch mehr Leute Union gewählt hatten als es die Umfragen hergaben. Gerade vor dem Hintergrund Lügenpresse etc. interessant, sich die damaligen Frontverläufe und Diskussionen zu Gemüte zu führen.

texas-jim   |   14.03.2016, 15:34   |  
Haben Sie Dank, damals war ich noch nicht anwesend. Das muß ich mal lesen.

Es sind ja zwei gegenläufige Gründe. Einerseits wird vermutet, daß die hohen Werte in den Umfragen einige derer überzeugt haben, die sich noch unsicher waren, daß man die AfD tatsächlich wählen kann, daß man damit nicht alleine ist. Das wäre ja eine positive Rückkopplung über mehrere Wochen vor der Wahl.

Andererseits sehe ich ja im starken Anstieg zwischen 18-Uhr-Hochrechnung und vorläufigem Ergebnis (beide am Wahltag) den Unwillen, die eigene Wahl (auch anonym) zuzugeben, was man da eben gewählt hat. Es scheint, als wäre der Glaube an die Unterdrückung der eigenen Meinung wirklich da. Und da wiederum sehe ich die Begriffe "Pack" und "Pegidioten" und so weiter vor mir, und durchaus auch die Lufthoheit in der Verbreitung der eigenen Meinung über die Medien. Ich weiß nicht, wie weit ein Anhören aller Meinungen gehen muß, aber im politischen Diskurs deutlich weiter als bisher, denke ich. Dafür bezahle ich schließlich Politiker und Medien.

mark793   |   14.03.2016, 15:54   |  
Ob es der Glaube an die Unterdrückung ist oder eher das, was Kollege vert vermutet (nämlich ein doch noch intaktes Gespür dafür, dass es nicht so ganz okay ist, die Rattenfänger zu wählen), das müsste man mit Tiefeninterviews erforschen, das gibt die Demoskopie so nicht her. Einen bestätigenden Effekt von Umfragen mag es wohl geben, ihn aber korrekt zu beziffern, das dürfte auch an einer eingebauten Unschärferelation scheitern.

Don Alphonso hatte vor einer Weile in der FAZ mal dargelegt, warum es in der Auseinandersetzung mit der AfD nicht unbedingt zielführend ist, immer nur "Nazis, Nazis!" zu brüllen. Dass sich das durch Übergebrauch abgenutzt hat, sollte jetzt nicht mehr zu übersehen sein.

texas-jim   |   14.03.2016, 16:04   |  
Ja, da hat Herr Vert ganz sicher einen Punkt. Und daß man die Anteile nicht so recht beziffern kann, da stimme ich Ihnen gern zu. Nun stellt sich daraufhin die Frage: Sind die Leute so schnell so geworden, daß sie sich jetzt trauen, AfD zu wählen, wo vorher vielleicht die NPD nicht tragbar war? Oder waren die schon immer so und kommen erst jetzt hinter dem Ofen hervor? Und wenn das so ist, muß ich im Sinne einer hohen Wahlbeteiligung nicht begrüßen, daß sie überhaupt zur Wahl gehen? Und im zweiten Schritt, daß sie sich durch Identifikation mit einer Partei auch interessieren und so in den Diskurs einsteigen?

Übergebrauch mag das eine sein, und eine zu große Waffe ist es vielleicht auch: Zur Rassen- und Weltbeherrschungstheorie fehlt den meisten doch ein gutes Stück. Aber da erschrecke ich vor mir selbst, vielleicht hoffe ich das nur, weil ich es glauben will. Was, wenn nicht?
Mitrauchen
 

vert   |   14.03.2016, 15:28   |  
ich hingegen würde davon ausgehen, dass es sehr wohl auch leute gibt, die sich eben von schlichtweg unanständiger rhetorik und menschenverachtender politik angezogen fühlen, aber schon auch sehr genau wissen, dass sich das eigentlich einfach nicht gehört.
so wählen sie halt repräsentant*innen, die dann die drecksarbeit machen. eigentlich genau, wie demokratie hier funktioniert. da diese wähler*innen aber angelegentlich mit resten von kinderstube ausgestattet sind, ist ihnen schon aufgefallen, dass die afd-drecksarbeit irgendwie ekliger ist als die anderer parteien, schweigen sie in teilen lieber darüber - oder beklagen wortreich an jeder straßenecke, dass sie nicht sagen dürfen, was sie dann unweigerlich sagen.
das narrrativ eines vermeintlichen diskursverbotes ist leider albern, es gibt eben kein menschenrecht auf unwidersprochene menschenverachtende meinungsäußerung, auch wenn das etwas ist, von dem manche glauben, dass es ihnen zustünde.

texas-jim   |   14.03.2016, 15:51   |  
Punkt für Sie, auf jeden Fall. Die AfD als Sammelbecken solcher Menschen. Und wenn man der Wahlbeteiligung glaubt, sind die wohl früher einfach zuhause geblieben und haben vor sich hin gegrummelt. Auch wenn ich das sehr mühselig finde, halte ich die Chance für größer, jemanden zu überzeugen, der nun endlich wählen war und sich hinter eine Partei gestellt hat, indem ich mich stellvertretend mit "seiner" Partei auseinandersetze, als mit jemandem, der stocksauer hinterm Ofen hockt, weil ihm ja eh niemand zuhören möchte und so weiter und so fort. Nun sind sie in der Öffentlichkeit, und irgendwas zwingt mich, das gut zu finden. Nur weil sie nichts sagen, sind diese Menschen ja nicht einfach weg und damit das Problem mit ihnen. Oder meinen Sie, die Leute waren vorher anders? Fänden Sie, die würden besser wieder Nichtwähler?

Das Diskursverbot halte ich auch für gefühlt. Ich kenne allerdings, in anderen Situatiionen, durchaus das Gefühl, etwas Wichtiges und Richtiges sagen zu wollen, und gehemmt zu sein, nicht so wortgewandt zu sein, und niedergeschrien zu werden. Widerspruch muß sein, und gefallen lassen darf man sich nichts, aber ich habe das Gefühl aus langen Jahren der Jugendarbeit, daß ich nur jemanden überzeugen kann, auf dessen Punkte ich auch eingehe. Dazu gehört auch, sich nicht über Rechtschreibung lustig zu machen, sondern tatsächlich den Punkt zu suchen. Das klingt jetzt sehr moralisch, und ich behaupte weder, daß man das immer und zu jedem Satz tun muß, aber gerade Medien und Politiker haben da eine Aufgabe, denke ich. Ich krieche lieber mit einem Kind, das sich vor Monstern fürchtet, unters Bett, als zu erklären, daß da keine sein können. So muß ich halt, um Ihr Wort aufzugreifen, meine Menschenachtung beweisen, indem ich auch diesen Menschen achte (Ey, es war Ihr Wort, und ich komm auch schon wieder runter vom Ross). Das lässt sich weder durchziehen, noch bin ich selbst bereit, mir wirklich jeden Scheiß anzuhören, das gebe ich gern zu. Und manch einer will auch so gar nicht hören und denken. (Über Ihren Widerspruch freue ich mich aber sehr!)

texas-jim   |   14.03.2016, 16:21   |  
Was auch noch für Ihren Punkt mit der allgemeinen Menschenverachtung spricht, ist folgendes: Die früheren Nichtwähler haben ja nicht schon Jahrzehnte auf Flüchtlinge geschimpft oder auf die aktuelle Lage gewartet. Das Potential kann sich also nicht aus diesem Grund allein aufgebaut haben, es entlädt sich lediglich daran. Gerade die früheren Nichtwähler sprechen also eher für die Unanständigen und Menschenverachtenden. Erschreckend.

texas-jim   |   14.03.2016, 16:32   |  
Und noch eines, ich kann es ja doch nicht lassen: Der Artikel hier hat eine tolle Grafik zu den Nichtwählern. Derzufolge haben auch die beiden "Großen" von diesen profitiert. Das würde für mich dafür sprechen, daß eher unpolitische Menschen auch zur Wahl gegangen sind. In welche Richtung auch immer.

Und jetzt fällt mir noch ein schulterzuckender Spruch aus dem letzten Herbst ein: "Jetzt sind sie halt da." Und wir müssen mit ihnen klarkommen.

vert   |   18.03.2016, 15:43   |  
ja, man muss diskutieren, aber nicht, wenn man damit seine eigene geistige gesundheit gefährdet. die verlachung von rechtschreibfehlern ist mir massiv zuwider. das problem aus einer klassistischen perspektive anzugehen bedeutet feuer mit feuer zu bekämpfen und verfehlt den kern um meilen. selbst wenn - und ich gehe nicht davon aus, dass es so ist - die abgehängten dieser gesellschaft geschlossen ihr (sieg)heil in der afd suchen würden, sollten vielleicht parteien mit den aufträgen "sozial" und/oder "christlich" sehr stark ins sich gehen, was man denn tun kann, um nicht dauerhaft 20% der bevölkerung in sozialbauten einzubunkern und mit soma zu beglücken. das geht sicher nicht weg, in dem man symptome bekämpft (flüchtlinge vertreiben) - ist aber natürlich ein geiler fnord.
ohne ebenfalls verschwörungstheoretisch wirken zu wollen, kann man ja hier schon mal cui bono fragen. der neoliberalismus, der kapitalismus im glänzenden gewande, hat kein interesse an stabilen demokratischen strukturen.

ich hab vor geraumer zeit mal was geschrieben: https://vert.blogger.de/stories/2461857/
letztlich hat sich daran nix geändert, plus die erkenntnis, dass ich ein verdammter prophet bin (s. letzter satz) :-/

huehnerschreck   |   21.03.2016, 12:26   |  
Ihrem Punkt „Die früheren Nichtwähler haben ja nicht schon Jahrzehnte auf Flüchtlinge geschimpft oder auf die aktuelle Lage gewartet.“ muss ich leider aus Erfahrung widersprechen. Die Antifremdlingsrhetorik gibt es hier (Dunkeldeutschland, meine Erfahrungen sind aus dem Leipziger und Dresdner Raum) schon buchstäblich immer. Vor dem Fall der Mauer waren es „die Fidschis“ (=Vietmanesen) und „die Kohlen“ (alles, was dunkler war als Kartoffeln hiesige Gewächse). Dabei war deren Zahl wahnsinnig gering.
Dieser Artikel hier https://editionf.com/Jugend-in-Sachsen-rechte-Gewalt-Heidenau ist nicht so weit entfernt von meinem Erleben (ich hab zwar nie Kloppe bezogen, angedroht wurde sie mir aber durchaus auch oft genug).
Mitrauchen
 


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