Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Sonntag, 4. 02 24

04.02.24, 11:58
Das kleine Hallenbad in der Stadt hat wieder geöffnet, nachdem es über Jahre hinweg saniert worden war. Grund genug, eine alte Tradition wieder aufleben zu lassen und schwimmen zu gehen. Wenn man davon absieht, sich allzu stark vom Beckenrand abzustoßen, kann man auch mit fünfzehn Metern Länge ein paar Züge schwimmen. Am Freitag allerdings fand ein Themenabend statt, was zu sehr vielen recht unbeweglichen Schwimmern führte. Erst spät konnte man sich im Wasser wirklich bewegen, doch bis dahin gab es Schnittchen und Süßes.

#
Eine ältere Dame zeigt einem kleinen Jungen, was ein Mohrenkopfwecken ist, und selten hat man ähnliches Glück gesehen wie in dieser Kombination aus Zucker, Schokolade und ein wenig gebackenem Teig. Wie weit entfernt die Sprachgewohnheiten voneinander sind, denke ich noch, wenn hier im Dialekt gesprochen wird, und wüsste gern, ob der kleine Junge überhaupt weiß, dass einst Menschen wie heute diese Süßigkeit bezeichnet wurden. Und mir fällt, bevor ich wieder ins giftgrün beleuchtete Wasser tauche, noch ein, dass beide Seiten dieser Sprachdiskussionen für sich in Anspruch nehmen, zu sprechen, wie sie es für richtig halten, ob es nun veraltete Begriffe mit beleidigendem Kontext oder neue Begriffe für ebenso neu erfundene Identitäten sind. Beide Seiten nehmen für sich die Freiheit in Anspruch, zu tun, was sie wollen, und beide Seiten lehnen jeden Gedanken an mögliche Auswirkungen ab. Es sind doch sehr wiederkehrende Symptome eines gesellschaftlichen Wandels, der unter enormen Reibungsverlusten sich vollzieht. Zum Glück kann ich beim Schwimmen nicht reden, denke ich, und verschlucke mich dann doch.

#
Die Umkleiden wurden getauscht, die Herren gehen jetzt zu den Damen und umgekehrt, und überall hängen sehr viele Schilder mit sehr vielen Ausrufezeichen, aber meine Güte, ist das ungewohnt und fremd nach mehr als fünfunddreißig Jahren.

#
Ich habe die Länge des Beckens übrigens durch eine Online-Karte und die enthaltene Funktion zum Messen von Längen abgeschätzt, weil ich das Gebäude und den Grundriss ganz grob zu kennen glaube. Was diese Welt an Werkzeugen bietet!

#
Ich habe noch, so fällt mir ein, als ich konzentriert in die ehemalige Damendusche gehe, in der ehemaligen Herrendusche als kleiner Bub geduscht, nach dem Schwimmen, das einfach im Stundenplan stand, und das ein Abenteuer war, mit Lehrer und einem Bus, der von Zauberhand zur rechten Zeit auf dem Hof stand und uns mitnahm in die Stadt, und nach dem Schwimmen noch in die Bibliothek, wo ich drei Bücher ausleihen durfte, unterm strengen Blick der Bibliothekarin auf Eignung für meine fragile Jungend geprüft. Daheim las ich dann die Spandauer Tagebücher, die Höhlenkinder, Burg Schreckenstein, die Stahlgewitter und die Griechischen Heldensagen durcheinander, und wenn ich mich für den Teil meiner Kindheit entscheiden müsste, der mir am wenigsten geschadet hat, dann würde ich die freie Wahl der Literatur aus dern heimischen und großelterlichen Bibliotheken wählen, auch wenn ich bis heute dafür eine Brille tragen muss.

#
In dieser Dusche stand zu jener Zeit manchmal ein älterer Mann, und ich meine, mich an einen struppigen Bart zu erinnern. Er war bekannt im Ort, denn er lebte noch in einem Haus ohne ein Badezimmer. Es gab einen Spülstein für die tägliche Wäsche in der Küche, und es gab das öffentliche Bad für die höheren Gelegenheiten. Wir schwammen freitagvormittags, und vermutlich hat das zu seinen Ritualen gepasst. Ich denke außerdem an eines der Häuser, durch das ich vor wenigen Jahren ging. Die Bewohner waren verstorben, das Haus an eine Freundin verkauft, die Renovierung war zu schätzen. Ich sagte Schau, was für kleine Zimmer! Und schau, in jedem Raum nur eine Steckdose, direkt unterm Lichtschalter an der Tür. Man nannte das wohl die Staubsaugersteckdose, als es dafür noch keine lustigen kleinen Roboter gab, und als man sich einen Nutzen für eine Steckdose in einem Schlafraum einfach noch nicht vorstellen konnte. Ich denke an die großelterliche Toilette, auf der es lange noch kein Toilettenpapier gab, und an das wirklich alte Haus mit den meterdicken Mauern, wo ich viel Zeit verbrachte auf dem Hof. Ich habe morgens Holz durch einen schmalen Flur in die Küche gebracht, wo es in einer großen Kiste verstaut wurde, und der Ofen war ein Herd und eine Heizung, und die Küche der geheizte Raum. Ich denke noch an ein anderes Haus, in dem ich nur kurz zu Gast war, als man Betriebshelfer noch wochenweise einquartierte, und dort duschten wir abends in der Küche, während die anderen schon beim Vesper saßen. Und ich denke nach über Wohlstand und Fortschritt, und ob uns wirklich jeder Wohlstand einen Fortschritt bringt, und daß wir uns trotzdem an ebendiesen Wohlstand klammern. Ich glaube nicht, daß viele freiwillig etwas davon abgeben würden, ich glaube eher, daß das Streben nach Wohlstand eine der wenigen weltumspannenden Egalitäten ist. Ich glaube heute, daß meine Erfahrungen des geringen Wohlstands, im Weltvergleich noch immer Upper Class, selbst für meine Generation schon selten geworden sind, daß sich selbst Erwachsene schon hervortun mit einem Tag ohne Internetzugang, und ich zähle mich durchaus zu denen, die ihn vermissen würden.

#
Ich sehe einige der jüngeren Folgen des Telekolleg, wenn ich auf dem Crosstrainer stehe, und ich finde die Kombination aus körperlicher Anstrengung und Vektorrechnung auf eine seltsame Art und Weise attraktiv, und meine Güte, was für Vergnügungen unsere Welt uns bietet.

#
Ich stelle fest, kein Kostüm zu besitzen. In den Jahren des Elferrates brauchte ich keines, und so ist all meine Kleidung stets zweckgebunden, für die verschiedenen Sportarten geeignet oder für die verschiedenen Arbeiten. Ich besitze also kein Kostüm, und wenn man von einem alten Tirolerhut, den ich als Geschenk eines lang verstorbenen Bauern sehr in Ehren halte, absieht, nicht einmal eine lustige Mütze. Und mir ist auch, wie ich vor dem Kamin stehend feststelle, nicht nach Fasching in diesen Tagen. Mehr Sonne, mehr Licht.
# |  Rauchfrei | Gas geben