Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Montag, 19. 10 15

19.10.15, 12:24 | 'Ansatzlos'
Am Freitag schreibe ich Papier um Papier voll, und dann ist es zu spät, um früh zu gehen. Die aus der großen kleinen Stadt Flüchtenden verstopfe die Straßen für Stunden, und das gibt mir die Arbeitsruhe, bis es dunkel ist.

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Als ich irgendwann nicht mehr geradeaus denken kann, nehme ich die Stunde Heimweg in Angriff. Rechner zu, Rechner auf, ich bin der Prototyp des digitalen Nomaden an der Steckdose. Ich lege die Beine auf den Heizkörper und schaue über das nächtliche Dorf.

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Im Pusten der Lüfter schlafe ich ein. In Stille erwache ich, stelle mich an den Schreibtisch, sehe nichts. Zurück ans Bett und noch ein Versuch mit Brille. Besser. Ich trage die neuen Kopfhörer, die mich sogar von meinem eigenen Atem abschirmen. Ich wecke die Lüfter auf. Kaffee. Kühe.

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"Setz Dich doch", sagt der Bauer, als ich tatendurstig vor dem Kaffeetisch herumhample.

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Zu zweit arbeiten mit jemandem, den ich blind sehen kann, den ich taub verstehen kann. Ich knie im Schmutz, reiße an dem alten Balken, der die Liegeboxen begrenzt. Einstreuen. Mit Ätznatron spielen. Wie früher, denke ich.

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Faschingsvorbereitungen am Nachmittag. Ich sage, noch in den Arbeitsstiefeln, zum Frühjahrstheater zu. Save the Date, lese ich in meinen Mails, und mein Herz hüpft schon jetzt dieser Hochzeit entgegen. Es ist mir eine Freude, es ist mir eine Ehre.

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Diese Tage, an denen sich alles fügt. Eine Fahrerin im roten Sportwagen, der Vetter zum Tanzen, Trinken und Lachen bereit, und die Schwarzgurtträgerin, die Schützin, die Ingenieurin kommt nach. Ich stehe am Eingang, als sie ankommt.

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Ich trinke, lache, rede, begrüße. So einfach ist das, und wie ich lache, laufen die Menschen auf mich zu, erzählen mir ihre Tage und ihre Jahre, und bei manchen ist es wirklich so, als wäre ich nur mal schnell für einige Minuten weg gewesen, wo sie mir doch erzählen müssen, was die letzten Jahre gebracht haben. Kontakt zu halten, das ist meine Achillesferse, meine schwache Stelle unter allen anderen Schwächen. Und so lasse ich sie schauen, als wir tanzen, so nehme ich seine starken Arme und lehne mich an seine breite Brust, und zusammen singen wir irgendwas, das ich nur für diesen Moment kenne und sofort wieder vergesse.

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Kindergeburtstag, lachen sie mir entgegen, die drei, die längst keine Mädchen mehr sind, wie ich kein Bub mehr bin.

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Ich tanze mit der Schwarzgurtträgerin, und dann stehlen wir uns nach vorne, um der Band zuzusehen. Ich erzähle davon, wie ich die Musiker kennenlernte, ich erzähle Geschichten aus der Schule und von Freunden, von Rotwein und wie es dazu kam.

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Ich stehe ruhig, als sie begrüßt wird und redet. Ich schüttle fremde Hände, und eigentlich schaue ich über die Schultern zur Musik, versuche auch, über Schultern zu horchen, bis mir ein Satz in den Kopf dringt. Ja, sagt sie, und ich spule mein Gedächtnis zurück: Ist das Dein Freund? hat er gefragt.

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Am Ausgang tun wir, was man so tut, wenn man sechzehn ist, oder wenn man dreiunddreißig ist und auch nicht gescheiter als mit sechzehn, und so oder so ähnlich fällt mir das ein, als wir uns schlußendlich loslassen und ich wieder nach drinnen gehe. Warm dort, ich muß schwitzen, ich muß tanzen, lachen und trinken. Ich muß mein Herz auf der Zunge tragen, und so hänge ich an den Schultern der Freunde und stolpere über meine Worte, meine Sätze, aber das sind meine Freunde, weil sie mich trotzdem verstehen, denke ich.

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Es ist furchtbar spät, und ich bin furchtbar müde. Es scheint uns wie eine gute Idee, noch eins, im Heizraum, wie früher, und dann ist es nicht mehr spät, sondern früh, und dann wache ich auch schon wieder auf.

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Kaffee macht alles besser, und mittags finde ich dann auch die erste Tasse wieder, die ich auf dem Weg von der Küche ins Büro irgendwo abgestellt und verloren habe. Überall Ablagen in diesem Haus.

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Weihnachten, sage ich, als meine Stimme wieder taugt, und ich werde euch ja sowieso nicht überzeugen können. Nein, lacht meine Mutter, und dann hole ich aus und rechtfertige mich abschweifend, warum das nun Luxus ist und warum ich es trotzdem gern hätte. Es geht ja schon Jahre ohne, sage ich, aber trotzdem, und dann bleibe ich stecken, weil ich den Widerstand nicht auflösen kann, daß ich nun wirklich gern hätte, was ich nicht brauche, daß ich es jetzt wirklich gern hätte, weil es, nun ja, nett wäre. Und sie schaut nur, verkneift sich das Lachen darüber, was sie da für einen Schwaben aufgezogen hat, und dann sagt sie, daß sie genau das noch da hat, was ich mir wünsche, und daß sie das nun schon ein gutes Jahrzehnt nicht mehr brauchen. Ja? frage ich, und dann halte ich die wundervolle alte Blechdose schon in den Händen. Es ist sogar noch Kaffeepulver drin, Jahre alt, weil hier niemand mehr Pulver braucht, schon lange nicht mehr, und den Dosierlöffel auch nicht, das darf ich alles mitnehmen, was mich zwar sehr glücklich macht, weil mir Dose und Löffel gefallen, und weil es mir gefällt, Dinge weiter zu verwenden, weil ich es symmetrisch finde, daß nun Kaffeemaschine und Kaffeedose und Kaffeelöffel wieder beisammen sind, bei mir, als Erbteil quasi, und daß ich morgens im Dunkel Kaffee mache, wie mein Vater früher Kaffee gemacht hat. Das Weihnachtsgeschenkproblem löse ich nun heute nicht, aber irgendwas ist ja immer, und dann werden es eben doch die Kletterschuhe, zefix, von mir aus.

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Ach je, ich bin spät, denn ich hänge am Telefon fest, und beim Telefonieren kann ich nun mal nicht duschen, auch wenn ich es kurz in Betracht ziehe. So tanke ich schnell und fahre noch schneller, ändere meinen Plan ein wenig und parke in der ungeliebten Stadt, und so stehe ich dann vor der Zeit, mit des Soldaten Pünktlichkeit, an der Tür. Ich sehe ihr durch den Flur zu, wie sie in die letzten Klamotten schlüpft, wie sie sich die Haare kämmt, zwei Mal mit und einmal gegen den Strich, und ich verehre diese Gelassenheit, diese Profession. Wir laufen und lachen uns die Straße hinunter, abwechselnd erzählen wir uns die Woche, den Monat, die Zukunft, das Leben. Ich esse, sie raucht, und dann trinkt sie Bier und ich Apfelschorle zu Wucherpreisen, aber dafür dürfen wir hier fernsehen. Wir sind rechtzeitig da, legen einen Schal auf unsere Plätze und lachen selbst am lautesten darüber. Der Film fesselt mich, überfordert mich, ich möchte ihn anhalten, mich sortieren, oder mich ergötzen am Kaktus, an den wenigen Sprüchen, die mich umhauen, die ich bejubeln möchte, aber dann spritzt schon wieder Blut, und irgendwann der Abspann, und sie lacht, neben mir sitzend, zu mir herüber. Du siehst verstört aus, sagt sie, und da trifft sie mich. Das ging mir zu schnell, stammle ich, und dann setzen wir uns auf der Empore noch einmal hin, Bier und Apfelschorle, repeat, und ich schaue aus dem Fenster in die Neonleuchten der Stadt, kalt und leer und wohlhabend ist sie hier. Ich fahre nach Hause, ich möchte ihr noch einen Gruß schreiben, wie ich das sonst immer tue, aber ich lasse das Telefon liegen.

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Ich besuche Dich, hat sie gesagt.

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Am Morgen erweitere ich mein Kaffeeritual. Die Dose macht das bekannte Geräusch beim Öffnen, ich dusche mich und sehe mir dann im Spiegel beim Altern zu. Lachfalten, denke ich in das müde Gesicht hinein. Aber sie gehen nicht mehr weg, wenn ich nicht lache, so wie die Stirnfalten sich nicht mehr glätten, wenn ich einmal nicht die Stirn runzle. Ich stelle mich vor den hohen Schrankspiegel. Sehe die letzten Abschnitte der Sommerbräune, die an den Radhosen aufhört, verschwinden, sehe meinen Hals und meine Schultern. Ein Sixpack ist das nicht mehr, denke ich, und dann schlüpfe ich in meinen Lieblingskapuzenpulli. Jung genug, murre ich, packe einen der Rechner zusammen, füttere den anderen mit Arbeit und stehe mit dem Buch in der Hand draußen, als der Bus kommt.

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Mir gegenüber sitzt, wie jeden Winter, ein Mädchen mit einer blonden Mähne. Mit einem Lächeln, das sie sich manchmal mit den Zähnen auf der Unterlippe verbeißt. Das sich dann langsam wieder nach vorne stiehlt, bis sie strahlt. Daß ich nie weiß, ob sie mich auslacht, innerlich, und daß ich weiß, ich würde selbst das genießen, von ihr ausgelacht zu werden. Ich schreibe ihr eine Ode in den zwanzig Minuten, die wir uns gegenüber sitzen, ach nein, ich schreibe ihr in jeder Minute zwanzig Oden, und dann steige ich aus, ohne Rückblick, dann doch so alt, und dann doch so lächelnd über die Flausen in meinem Kopf, der sich immer noch nicht recht fürs Erwachsensein entscheiden kann. Wozu denn auch?
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