Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Donnerstag, 19. 11 09

19.11.09, 11:53 | 'Heller als tausend Sonnen'
Ich gehe viel zu früh aus dem Büro, aber irgendwie passt dann doch alles.

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Die fehlende Semestermarke und das siedigheiße schlechte Gewissen in der Straßenbahn.

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Die beiden Riesen mit ihren Baskenmützen. Ich fühle mich mit diesen Pseudokriegern nicht sicherer, nein.

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Ich trage die schweren Schuhe, fällt mir auf. Zufall, glücklicher.

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Ich laufe einem älteren Herrn nach, der ein Band-T-Shirt trägt. Wird schon stimmen.

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Dem, der die Personenkontrolle macht, zeige ich meine Eintrittskarte. Er grinst, und ich merke, daß es ihn schüttelt, als er mich schnell durchsucht. Durch die dicke Jacke mit den Panzereinlagen könnte er nicht einmal eine Schußwaffe spüren, denke ich mir, und so grinsen wir uns beide an, bis er mich durchwinkt.

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Irgendwo muß doch noch jemand sein, der jünger ist als ich.
Wunschdenken, überall stehen Jüngere. Wenige nur, aber doch. Vielleicht bin ich ja auch einfach älter?

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Ich laufe durch den Raum und bleibe irgendwo stehen. In Sichtweite eine hübsche junge Frau. Lächelt sie mir etwa zu? Sie trägt ihr langes Haar offen und sieht so gar nicht nach Konzert aus. Ich wohl auch nicht, denke ich, und lächle zurück. An der Absperrung bleibe ich stehen.

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Rechts von mir einer, der sein Haar meterlang trägt. Er ist so groß, daß ich es trotzdem nicht zu fassen bekäme, sollte ich je auf die tollkühne Idee kommen, ihn an den Haaren zu - nein. Auch er lächelt mir zu, herrjeh, was soll denn das?

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Links von mir ein Herr um die sechzig. Etwas gebeugt lehnt er am Gatter, die spärlichen grauen Haare kurzgeschoren. Er fragt einen Sicherheitsdienstler nach der Vorgruppe. "Kingston oder so." Aha. Später wird er ihnen den Vogel zeigen.

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In der Mitte ich im schwarzen Pullover, mit Brille und zur Abwechslung mal mit so etwas wie einer Frisur. Kein Wunder, daß einer der Fotografen neben der Bühne auf uns deutet. Er klaubt eine seiner beiden Kameras vom Riemen und zielt mit dem Objektiv auf uns. Herrjeh. In welchem Magazin jetzt wohl unser ungleiches Trio auftauchen wird? Auch er lächelt, da hol mich doch dieser und jener. Ich wittere, aber es liegt kein Gras in der Luft. Als sich nur einer hinter uns eine Zigarette anzündet, rennt man sofort auf ihn zu: "Rauchverbot!"

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Die Vorband ist laut und schnell, und sie heißen "Winston aus Wuppertal", wie der Schlagzeuger mit sehr heller Stimme erklärt. Ich muß da fast lachen, weil sie doch so gern die härteren Foo Fighters wären, und dann dieses "Wuppertal". "Könnt ihr ja nix für", rufe ich auf die Bühne, und zum Glück hört mich niemand.
Drumsticks verbraucht er eine ganze Menge, ich meine zwischendurch Sägespäne fliegen zu sehen. Der Sänger schreit, und ich verstehe ihn nicht. Den Rest der Botschaft lese ich aus seiner Frisur, das reicht auch schon. Das Schlagzeug wird nochmal schneller, und darunter leidet noch ein wenig die Treffsicherheit, aber ich kenne mich ja nicht aus. Der Bassist steht direkt vor mir, und das klitzekleine Bäuchlein hat er sich wohl eigens angegessen, für diesen riesigen E-Bass.

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Endlich. New Model Army. "Longhorn. Feels like kind of home."

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Der Basser ist ein richtiger Brite, und die ganze Zeit über scheint er seinen ganz eigenen Film zu drehen. Steht mal hier und dort, und trotzdem immer zur rechten Zeit am Mikro, wenn es mal wieder einen Refrain zu hinterlegen gilt. Mal mit einem langgezogenen Vokal, mal mit klarem Gesang.

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Überhaupt Klarheit. So klar wie die Texte, so verständlich die Aussprache. Das ist es wohl, was New Model Army fast dreißig Jahre auf der Bühne hält. Sie sind wütend, und sie sind intelligent. Das kann ja heute keiner mehr, die Jungen sind entweder zu tumb, um wütend zu werden, oder nicht klug genug, um ihre Wut zu nutzen. Solange müssen es die Alten noch tun, denn einer muß ja. Wut verbreiten, mit Witz und Bissigkeit, und genau so spielen sie auch. Der Zorn benebelt sie nicht, sondern er beflügelt sie. Gibt ihnen Kraft. Und sie wollen sich mitteilen, wollen Wut und Kraft übertragen, und daß man dazu verstanden werden muß, das kann man hören, weil man sie verstehen kann. Textlich und sprachlich, und das ganz ohne Biederkeit oder säuselndes Simplicissimusizieren.

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Er spricht in die Stille, die sich im Saal breitgemacht hat, und davon, welche Stärke in der Stille einer Menschenmenge liege.

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Ich habe eine sehr ruhige Ecke in der ersten Reihe erwischt, denke ich, als ich mich einmal umdrehe. Es ist ein sehr geordnetes Tanzen, in Reihen, und das amüsiert mich ein wenig.

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Als ich aus vollem Hals mitschmettere, trifft mich der Blick des Sängers. Seine langen Haare sind nass, von seinen Armen spritzt Schweiß, und er lächelt mir zu, bevor er sich wieder nach seinem Mikrophon umdreht.

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Das endlose, hypnotische Wiederholen einer Zeile. Peace is only for the dead and the dying.

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Kaum Zeit für den Applaus, so gehen die Lieder ineinander über. Greifen die Gitarren wie Zahnräder ineinander.

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Zur Zugabe den 51st state, selbstverständlich.

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Stupid questions fehlt mir. I love the world fehlt mir auch.

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"Wir werden nächstes Jahr dreißig - als Band."

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"Wenn ihr Sorgen habt, und euch Fragen quälen, dann steigt auf einen eurer wundervollen schwäbischen Berge, und schaut von dort hinab aufs Land. Auf die Wälder. In den Horizont, der noch da sein wird, wenn... - immer."

But from high on the high hills it all looks like nothing

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Everything is beautiful, because everything is dying.

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So who wants to live forever
When these moments will only come the once?


Das hätte ich gern gehabt, aber so ist das nun mal, wenn man Hemden nicht auseinanderfaltet. Aber ich bin zufrieden:

And where the grass grows through the concrete
It shows me where to follow, it shows a path to follow
I chose this way to follow


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Immer wieder die vier, fünf Fotografen. Sie stellten sich in den Gang vor der Bühne und knipsten die Bühne. Schon, als noch niemand darauf stand. Einer steht minutenlang vor mir, und wer bezahlt hier eigentlich den Eintritt, denke ich mir zornig. Macht doch ein Konzert ohne Zuschauer, wenn euch die beim Knipsen nur hinderlich sind. Wenn ihr nur Bilder braucht. Bevor ich ihn in die Schulter beißen kann vor Wut, dreht er sich zu mir. Er lächelt nicht mehr, und von da an kriecht er gebückt durch den Gang. Er scheint mich verstanden zu haben.

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Ich bekomme die vorletzte Straßenbahn, und die letzte Stadtbahn, hurra.

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"There is always one person who is terrified by silence." Ich habe das noch im Ohr, als einer in der Bahn zu brüllen beginnt. "Kriminalpolizei!" schreit er, und ich schaue weiter aus dem spiegelnden Fenster.

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Zu mir setzen sich zwei Jungs, die sich über Thermodynamik unterhalten, und ein Mädchen, das sehr dürr ist und eine Schiene am Handgelenk trägt. Ihr ist warm, sie legt ihre Jacke ab und öffnet ihre Weste. Ab und zu beugt sich einer zu ihr und tätschelt sie. Ihr glattes, langes Haar rutscht ihr ins Gesicht. Sie streift es nicht zurück. Sie wirkt nicht glücklich.
# |  13 RauchzeichenGas geben