Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Dienstag, 19. 09 23

19.09.23, 09:41
In den letzten Tagen habe ich nicht nur die Donau schwimmend durchquert, was eine Tätigkeit ist, die durchaus an unterschiedlichen Stellen und zu unterschiedlichen Jahreszeiten verschieden zu werten ist. Doch eine Idee von Strömung bekommt man auch im Sommer und in Unterhosen, die man irgendwann auch noch mit einer Hand festhalten muss, weil ausgeleierte Gummibänder im Wasser sehr schnell noch mehr ausleiern, während man mit der verbleibenden Hand unauffällige Schwimmbewegungen ausführt, um zumindest grob Kurs zu halten. Kurs zu halten auf ein unbewegtes Ziel, eine kleine Sandbank am anderen Ufer, bedeutet auch, daß man sich selbst immer weiter dreht, immer mehr gegenan schwimmen muss, während einen die Strömung mehr und mehr am gewünschten Ziel vorbeitreibt. Und sie scheint einen auch zurück zur Mitte des Stroms zu ziehen, stelle ich irgendwann fest, und intensiviere meine kläglichen Schwimmbewegungen, nachdem ich die Unterhose zwischen den Hinterbacken gesichert habe. Und erst, als ich tatsächlich Grund unter den Füßen spüre, als ich fest stehe, spüre ich die Kraft und Geschwindigkeit des Flusses, der mir zuvor immer noch sanft vorgekommen war. Aloha heja hey, murmle ich und ziehe den Bauch ein, als ich aus dem Wasser steige und mich umdrehe, um die Nachfolgenden zu beobachten und zu begrüßen.

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Wieder im Bus sitzend drehe ich mein Bier in der Hand, schaue aus dem Fenster, trockne so vor mich hin und denke an die Geschichte vom ruhenden Beobachter. Das ist eine Gedankenfigur aus der Physik, die ein Ruhesystem aus Koordinaten mit sich herumträgt und sich darin nicht bewegt. Von einem anderen Koordinatensystem ausgehend kann sich der Beobachter, nun zum Beobachteten geworden, durchaus bewegen. Es gibt dazu das Beispiel des Kindes, das im Zug durch den Gang nach vorn rennt und fragt, wie schnell es sich denn nun bewegt. Dabei wirft es noch einen Ball nach oben und fängt ihn wieder auf, und vermutlich muss es im Beispiel deshalb ein Kind sein, weil man als Erwachsener wohl keinen Ball mehr im Zug werfen darf. Ich weiß ja wenig über Erwachsene. Nun, der Ball, das Kind, der Zug, sie bewegen sich alle, wenn man am Bahnsteig steht. Ganz langsam bewegen sich die Kontinentalplatten unter ihnen, und selbst die Schienen haben immer wieder Ausgleichselemente, weil sie sich bewegen. Man kann nun durchaus sagen, daß derart langsame Bewegungen ja keine Bedeutung hätten. Doch wer dies beklagt, hat wohl noch nie dem Stundenzeiger einer Uhr zugeschaut. A propos Uhr: Daß selbst die Zeit in jedem System anders vergeht, ist ein Element der Realitätstheorie, von dem mir nur die Hoffnung bleibt, daß ich einst in meinem System genug Zeit haben werde, um auch das noch zu verstehen. Zum Glück braucht man die im Alltag selten, bewegen wir uns doch meist viel zu gemächlich darin. Ein Glück also, diese langsamen Bewegungen, auch wenn wir auf einer Kugel sitzen, zumindest näherungsweise einer Kugel, zugegeben, und vielleicht sitzen wir ja auch gar nicht alle ständig, und doch bewegt sich diese Kugel, während wir sitzen. Sie rotiert und taumelt und macht komplizierte Dinge, und es bringt uns Tage und Nächte und Sommer und Winter, und davon brauchen wir dann doch einige, bis wir zumindest diese Bewegungen grob verstanden haben. Nun bewegen wir uns auch noch samt der Sonne, samt der Galaxie, und da gehen mir irgendwann die Systeme aus, und vielleicht hört genau dann die Wahrnehmbarkeit der Bewegung auf, auch wenn die Bewegung selbst uns vielleicht nur verborgen bleibt.

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Jedenfalls, so drehe ich mein Bier weiter in der Hand, denke ich über Gelesenes nach, was bei einer Busfahrt eine gute Idee ist, denn beim Lesen selbst wird mir doch gern schlecht dabei. Am Bier kann es nicht liegen, nein. Daß sich jemand nicht bewegt hätte, habe ich gelesen, sondern die Welt um ihn, um sie herum. Die Welt als politisches System, und daß dieses in Bewegung ist, kann sicher keiner bestreiten, ist doch die Welt als Grundlage der Politik, ganz sicher in Bewegung, besteht sie doch aus den Menschen und ihrem Zusammeleben. Politik, das sind die Regeln, die wir aushandeln, die wir annehmen, die wir aufschreiben und uns ausdenken. Den eigenen Stillstand wahrzunehmen in einem bewegten System ist eine Aufgabe, über die ich gerne nachdenke. Vielleicht sind es am ehesten die eigenen Leitsätze, die Mantren, die man sich ausdenkt und mit sich nimmt, an denen man sich ausrichtet, statt am vorüberziehenden Wind. Als Moral und Haltung werden sie oft bezeichnet, sind in ihrer Unkonkretheit, in ihrer Ungestalt doch dabei niemals greifbar, immer formbar, und so ganz sicher kein Maßstab für die eigene Bewegung. Das ist Absicht, das ist Politik, und das ist ganz sicher ein Grund zur Vorsicht im Umgang mit jenen, die Moral und Haltung vor sich hertragen, statt sie zu festzuhalten. Konkret muss der Leitsatz also sein, und ein Bezugssystem braucht er dazu. Ich erinnere mich, wie ich als Jugendlicher geschimpft habe, das Benzin müsse doch fünf Mark kosten, damit endlich Schluss sein möge mit der unsinnigen Fahrerei. Diesen Leitsatz habe ich verloren auf dem Weg, und gar nicht so sehr, weil ich selbst zu fahren begann, unsinnig vielleicht, weil hin und her, vor und zurück, wenn man nur weit genug von oben draufschaut. Sondern mehr, weil es den Bezug nicht mehr gibt, weil die Mark nicht mehr ist, und selbst ihre Nachfolgerin so schnell an Wert verliert, daß ich nicht mehr sicher bin, ob zuerst mein sinnloses Fahren aufhört, weil ein Preis erreicht wird, oder ob uns doch irgendwann der Sprit ausgehen muss dafür. So hat sich mein Leitsatz nicht verändert, und doch seinen Sinn verloren. Ein abstrakteres Konzept fällt mir noch ein, und zwar die vielzitierte Menschenwürde, deren wichtigstes Verdienst vielleicht darin besteht, daß Menschen über ihre Würde nachdenken. Doch auch dieses abstrakte Konzept ist wandelbar, was man unzweifelhaft daran erkennt, daß es sie vor wenigen tausend Jahren noch gar nicht gab. Doch lebe ich samt meinen Überzeugungen noch keine tausend Jahre, und so sollte ich vielleicht einen kürzeren Bezugszeitraum auswählen. Und es ist noch keine zehn Jahre her, da bestand die Menschenwürde darin, daß man eine Altersangabe nicht mit einem Röntgenbild nachprüfen durfte, um herauszufinden, welche Gesetze denn nun anzuwenden wären. Darin bestand die Würde derer, die aus Kriegen flohen, so die Haltungsträger, und heute hat sich der Krieg geändert, und so schicken wir Menschen, die vor diesem anderen Krieg fliehen, zurück, um drin zu kämpfen und zu sterben. Ein sehr wandelbares Konzept, ganz zweifellos, diese Menschenwürde, und mit ihr alle Leitsätze, die ich mir daraus zusammengereimt habe. Zum Beispiel der, daß Krieg durch Waffen nicht kleiner wird, nicht gerechter, nicht weniger tödlich, denn liefern wir doch zu den Menschen auch die Waffen, und scheint er doch nicht weniger zu werden, dieser Krieg, nicht kürzer und nicht weniger tödlich. Für die andern natürlich, und vielleicht ist ein Leitsatz auch immer einer, der den Beobachter zum solchen macht, ihn abgrenzt vom System, in dem er sitzt und sich doch bewegt, darin und mit ihm, strampelnd und hoffend, daß es der Krieg der andern bleiben möge. Und so bewege ich mich und finde einen neuen Leitsatz der Bewegung für mich: Daß alle sich bewegen, so gut sie können, in ihren Systemen, die sich wiederum bewegen, und daß, wenn zwei aufeinanderstoßen, vielleicht der Impuls berechenbar, doch der Grund und das Ergebnis oft unbestimmt bleiben.
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