Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

31.12.23, 17:01
In diesen letzten Tagen des verfließenden Jahres habe ich noch eine Sache näher kennengelernt, die mich nie interessiert hatte, von der ich nie tangiert war. Da ich nun aber ungewollt Teil des Ganzen geworden bin, habe ich mir natürlich Gedanken gemacht und einen Begriff dafür gesucht. Ich nenne es die Meta-Kontaktschuld.

Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen und ein fiktives Szenario mit einem ebenso fiktiven Thema entwerfen. Wir brauchen mindestens fünf Personen für diesen Vorgang. Zwei davon sind in einem gewollten und weitgehend geregelten Clinch, der darin besteht, dass die eine etwas weiß und entscheidet und begründet, und die andere genau nach diesem Wissen fragt und die Entscheidungen kritisiert. So fragt nun die erste Person die zweite nach der Uhrzeit. Man erfährt nicht, warum und wozu, doch weiß man, auch dafür ist die zweite Person in irgendeiner Form zuständig, dazu hat sie ein besonderes Wissen, das sie mit der Fragestellerin teilen muss. So sind die Regeln.

Ein Jahr später unterhalten sich nun zwei andere Personen angeregt, stellen sich Fragen und geben sich Antworten. Sie sind einander zu nichts verpflichtet, sie sind sich grün, und das Thema der Unterhaltung liegt beiden irgendwie am Herzen. Am Rande taucht auf - die Uhrzeit. Und einer der beiden sagt nun: Schau her, ich habe Dir herausgesucht, was diejenigen, die Verantwortung tragen und aus dieser Verantwortung heraus auch Wissen haben müssen, zur Uhrzeit sagen. Beide nehmen das zur Kenntnis, das Gespräch dauert an und endet irgendwann später damit, dass beide sehr bedauernd den Kopf schütteln ob des Schlamassels, und daß die Frage, was denn nun konkret zu tun sei, um die Sache mit der Uhrzeit zu verbessern, nicht so einfach zu beantworten ist.

Bislang ist nichts passiert, doch haben sich sowohl die ersten beiden öffentlich und nachlesbar unterhalten, als auch das zweite Pärchen in diesem Spiel, wenn auch in einem halbprivaten Rahmen, wie es beispielsweise Gespräche unter Bekannten an einem Tisch in einer Kneipe sein mögen. Vielleicht wird dazu gegessen und getrunken, vielleicht nickt man jemandem in dieser vollen Kneipe zu, sich auf einen freien Platz am Tisch zu setzen und dort sein Bier zu trinken. So sitzt er nun, der Fünfte, trinkt sein Bier und hört wohl zu. Vielleicht redet er mit einem Begleiter, doch ist das für den Fortgang der Geschichte gar nicht notwendig.

Denn mit einem Mal steht er auf, dieser Fünfte, und wirft sich in die Brust: Nicht mehr mit am Tisch sitzen möchte er, wozu ihn niemand eingeladen aber wovon ihn auch niemand abgehalten hat. Er steht auf und geht, doch bleibt er mitten in der Kneipe noch stehen auf ein Wort: Wer an seinem Tische, hebt er an, auf den allerersten in der Fünferrunde Bezug nehme, und sei es auch nur indirekt, weil Eins und Zwei nach den Regeln des Spiels nun leider miteinander reden müssen, wer sich also auf Zwei beziehe, der wiederum dem Einen antworten muss, der fliege raus. Nicht zitierfähig sei der Eine, führt er weiter aus, und daher auch nicht die Antwort des Zweiten, die dieser übrigens in Dokumenten sammelt, in denen sich hundertundfünfig Fragen tummeln, stets treu und brav beantwortet und von vielen Seiten zu allen möglichen Themen gestellt, denn so sind die Regeln, dazu ist der Zweite verpflichtet, wie auch der Erste unter mehreren zu den Fragen berechtigt ist. In keiner Debatte dürfe eine Antwort des Zweiten auftauchen, wenn die Frage vom Ersten kam, sie dürfe auch nicht als Argument verwendet werden, und sei sie noch so sinnvoll wie die Uhrzeit. So verbrennt also die Frage des Ersten stets die Antwort des Zweiten, was das Eine ist. Das kann man für unterschiedlich sinnvoll halten, denn es finden sich gar viele Fragen, von vielen und zu vielen Themen. So bleibt offen, ob eine Antwort auch dann genannt werden darf, wenn die Frage von mehreren kam, zur gleichen oder zu verschiedenen Zeiten. Doch hat der Fünfte bereits jetzt die zwei, die am Tisch über ihrem Gespräch sitzen, in die Nähe des Ersten gerückt. Vielleicht noch nicht nah genug, und wer weiß, ob alle ihn gehört haben, und so stellt er sich also vor die Kneipentür und erzählt allen, die es hören wollen, er habe mal jemanden gekannt, der ihm die Fragen des Einen vorlesen wollte, oder etwas anderes noch, gar Schlimmeres.

Nun kann man raten, wer einer der beiden Kneipensitzer war, und wird auf meine Wenigkeit kommen. Den Meta-Kontaktschuldigen. So geht es also dem Ende zu, das alte Jahr, und so wirft das neue seine Schatten voraus. Ein Schatten, in dem die Uhrzeit unstatthaft wird, nicht weil sie falsch ist, nicht einmal, weil sie vom Falschen abgelesen und verkündet wurde, sondern weil der Falsche danach gefragt hatte, und wenn es auch anderthalb Jahre vorher war. So proste ich Ihnen also zu am letzten Vorabend des Jahres, in dem befürchtet werden darf, daß etwas wie Haltung nicht nur gesagt, sondern gezeigt und bewiesen werden muss, und so wünsche ich uns, daß wir weiter Themen finden, und Gesprächspartner und gute Antworten, denn sonst wird der Eine irgendwann alle zum Verstummen gebracht haben, indem er einfach alle Fragen stellt.

Rauchzeichen




nnier   |   31.12.2023, 16:11   |  
Uff. Keine Ahnung, worum es hier konkret geht - aber der Mechanismus ist deprimierend, lähmend. Schließe mich den am Schluss geäußerten Wünschen an.

texas-jim   |   31.12.2023, 16:21   |  
Konkretes Thema war die Suizidrate einer Berufsgruppe in diesem Land, die mir am Herzen liegt: die Landwirte. Doch der Mechanismus ist wahrhaft lähmend, und mir fällt nicht viel anderes ein, als ihn zu benennen, um dagegen anreden zu können.
Mitrauchen
 

kittykoma   |   31.12.2023, 19:00   |  
Ein Problem, mit dem ich mich auch herumschlage. Wenn Menschen oder Medien, denen ich vertraue, Themen auf ignore setzen und andere, die mir suspekt sind, das nicht tun, sondern den Diskurs führen, dann wird es irgendwann verdammt eng, wenn jede vom Richtigen gegebene Antwort auf eine vom Falschen gestellte Frage nicht mehr gilt.
Es erinnert mich an längst vergangene Zeiten, als vom Klassenfeind besetzte Themen indiskutabel waren.

texas-jim   |   02.01.2024, 11:06   |  
Niemand muss alles lesen, zu allem eine Meinung haben. Das ist völlig in Ordnung. Ich sehe Argumente nicht davon entwertet, wer sie erfragt hat, auch wenn selbstverständlich hinter jeder Frage eine politische Idee stehen kann.
Bei den Medien sehe ich das anders: Ich nehme mittlerweile eine Medienlandschaft wahr, die sich mit Themen überhaupt nicht mehr beschäftigen möchte, die nur noch an der absoluten Oberfläche verharrt. Dort steht sie jedoch fest und mit einem sehr engen Blick in die Richtung, die man dort für die richtige hält. Und man verbleibt allzuoft in Andeutung und Geraune, lässt die Fragen nicht nur ungeklärt, sondern sogar ungestellt. Ich habe außerdem den Eindruck, dass Selbstwidersprüche nicht mehr herausgestellt, vielleicht nicht einmal mehr wahrgenommen werden.

Ein zum eigentlichen Thema passendes Beispiel ist ja der Agrardiesel, der neuerdings eine "klimaschädliche Subvention" darstellt. Das wird regierungsseitig verkündet, um den Haushalt zu vergrößern, das wird in der Medienlandschaft sogar als "Einsparung" weitergegeben, alle nicken, böser, böser Diesel. Daß die Steuer auf den Agrardiesel gar nicht entfiel, sonden nur auf etwas mehr als die Hälfte reduziert war, daß die Mehrwertsteuer trotzdem auf den unverbilligten Preis anfiel, daß die Menge verbilligten Diesels gedeckelt war, all das hat man schon kaum mehr irgendwo gelesen. Daß aber innerhalb von kürzester Zeit die Idee einer Steuer auf das bislang völlig unbesteuerte Flugbenzin wieder vom Tisch fiel, das hat man selbst für innerdeutsche Flüge nur mit der Furcht vor Wettbewerb begründet, und nach einem Tag war das vom Tisch. Nun ist das Argument des Wettbewerbs ja auch für die Landwirtschaft gültig, wo in umliegenden Ländern zum Teil deutlich niedrigere Steuersätze für den landwirtschaftlich genutzten Diesel gelten. Und daß landwirtschaftliche Produkte auch importiert werden, ist Wettbewerb, während es für mich schlecht vorstellbar ist, daß ein innerdeutscher Flug durch eine Reise ins Ausland mit anschließendem Weiterflug zum deutschen Zielflughafen ersetzt wird, da der Zeitvorteil ja völlig verlorengeht. Und daß, wenn es ums Klima geht, allein am Flughafen Frankfurt schon im Jahr 2018 mehr als 14,7 Millionen Liter am Tag getankt wurden, während der gesamte Jahresverbrauch von deutscher Land- und Forstwirtschaft auf etwa 2 Milliarden Liter geschätzt wird, von denen wegen der Deckelung längst nicht alles steuerreduziert war, zu dieser Recherche konnte sich kein mir bekanntes Medium mehr aufraffen. Und zuletzt fehlt mir die Frage, was uns denn näherliegen sollte, die Ernährung oder das Fliegen, auch wenn mir vermutlich die Antwort nicht gefallen würde. Selbst ohne viel Sachkenntnis könnte man in der Frage noch einen Schritt weitergehen: Wen trifft der Wegfall denn am meisten? Die ökologische Landwirtschaft nämlich, die durch mechanische Unkrautbekämpfung und geringere Erträge einfach einen höheren Dieselverbrauch für ihre Fläche und ihre Lebensmittel bedingt. Außerdem schadet sie der bäuerlichen Landwirtschaft, da die Deckelung der Vergünstigung natürlich den kleineren Betrieben zugute kam. Und wenn ich als Medium voll kluger Leute, die wirklich informieren wollten, noch einen draufsetzen will, kann ich die Frage nach der Zukunft der Landwirtschaft, und was wir dafür tun können, durchaus stellen, wenn auch etwas offener und spekulativer. Gehen wir nämlich her und fördern die Robotik und die Automatisierung des Pflanzenbaus in Forschung und Entwicklung, an Hochschulen und in der Landwirtschaft direkt, dann tun wir gleichzeitig etwas für den industriellen Standort und den Export. Landwirtschaft wird weltweit betrieben, und deutsche Agrartechnik ist weltweit anerkannt. Sie kennt bisher nur eine Richtung, und zwar der Erhöhung der Schlagkraft zur Kostensenkung. Dazu gehören große Betriebe und große Flächen. Wenn wir also die Verwandlung der Landwirtschaft in eine Sparte großer Konzerne verhindern und gleichzeitig etwas für die Biodiversität tun wollen, müssen wir kleine Strukturen wollen. Die Robotik beispielsweise in der Melktechnik hat die Selbstausbeutung der bäuerlichen Betriebe schon reduzieren können, und sie kann im Ackerbau der Größendegression der Kosten ebenso etwas entgegensetzen. Kleine Roboter, die Unkraut bekämpfen, können das ökologisch tun, und zum Teil sogar ohne oder mit geringstem Kraftstoffeinsatz und in kleinen Strukturen. Was wäre nötig dazu? Förderung von Forschung und Entwicklung natürlich, aber auch gesetzliche Ideen: So ein Roboter muss unbeaufsichtigt arbeiten dürfen und auch einen Feldweg überqueren.
Statt all dieser drängenden und spannenden Themen, wirtschaftlich, politisch und sozial, lese ich die hundertelfte Kolumne der Kenntnislosen darüber, wie "rechts" der Protest nun wirklich ist. Wie ernst die Lage ist, das kümmert keinen. Was für eine geistlose, einseitige Bearbeitung eines derart wichtigen Themas!

nnier   |   03.01.2024, 16:00   |  
Das habe ich sehr gerne gelesen. Danke für die Einordnung.

texas-jim   |   04.01.2024, 10:57   |  
Ach, das freut mich sehr, auch wenn ich natürlich nur meine eigene Einzelmeinung vertrete, ohne selbst mehr als eine Hilfskraft in der Landwirtschaft zu sein.
Mitrauchen
 


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