Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

28.07.16, 17:40 | 'Rage within the machines'
Quervergleiche von heimtückisch Ermordeten mit der Anzahl von Verkehrstoten, mit der Zahl an Krebstoten durch das Rauchen. Zu denen, die vor Jahren in Winnenden ums Leben gekommen sind, hat doch auch keiner gesagt, sie wären immerhin nicht vom Bus überfahren worden. Was denkt ihr euch eigentlich mit solchen Vergleichen? Erzählt ihr den Opfern einer Vergewaltigung, die ja mit neuen Gesetzen erst besser geschützt werden sollen, auch, daß sie sich ja nicht so anstellen sollen, immerhin seien sie ja nicht im Straßenverkehr umgekommen? Da sterben ja auch Fußgänger und Radfahrer, weil sie eben nicht durch eine Armlänge Blech um sie herum geschützt werden. Und vermutlich gibt es dort auch mehr Verletzte als durch Vergewaltigungen, ich weiß es nicht. Also alles gut, kein Grund zu Veranlassung, nur ich könnte das Kotzen kriegen, wenn ich so eine herablassende und menschenverachtende Argumentation ausgerechnet von denen lesen muß, die sonst den Mund vor lauter Empathie und Menschlichkeit kaum mehr schließen können.

Rauchzeichen




solminore   |   01.08.2016, 14:11   |  
Bei solchen Vergleichen geht es nicht ums Relativieren des Unglücks, sondern ums Zurechtrücken der Risikowahrnehmung. Wenig ist gefährlicher als eine Bevölkerung, die sich bedroht fühlt. Da darf man schon einmal die Statistik bemühen.

texas-jim   |   01.08.2016, 17:08   |  
Sie haben da einen guten Punkt, vielen Dank, möchte Ihren Beitrag aber etwas zergliedern:

Zweck ist, das Gefühl der Bedrohung in der Bevölkerung zu vermeiden. Das ist durchaus legitim. Ich persönlich hatte den Eindruck, daß eher Trauer und ziellose Wut herrschten als das Gefühl, bedroht zu sein. Deshalb sehe ich die von Ihnen erwähnte Gefahr auch eher darin, daß die Wut sich ein Ziel suchen könnte. So weit, so gut.

Nun heiligt dieser Zweck nicht die Mittel, glaube ich. (Außerdem glaube ich, daß gar nicht eine Beruhigung das Ziel war, sondern eine Rechtfertigung dafür, nichts unternehmen zu müssen. Wenn es keine Bedrohung gibt, ist alles super, wir müssen nichts tun.)

Warum ich das Mittel für falsch halte, will ich mit einem anderen Vergleich der Zahl von Unfällen und Tötungen zeigen: Im Jahr 1970 lag die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland bei knapp 20000 (Vermutlich der Höchststand seit je: Quelle). Im knapp fünfjährigen Bestehen des Konzentrationslager Auschwitz I sind nach Schätzungen 60000 bis 70000 Menschen ermordet worden (Quelle), das sind durchschnittlich 12000 bis 14000 Menschen pro Jahr. Nach Ihrer Argumentation, daß Zahlen von Unfalltoten mit Ermordeten vergleichbar sind, ergibt sich, daß das Risiko, in der Bundesrepublik des Jahres 1970 bei einem Verkehrsunfall zu sterben, fast doppelt so hoch war, als während des zweiten Weltkrieges im Konzentrationslager Auschwitz I ermordet zu werden. Und dabei habe ich noch außer Acht gelassen, daß die Bevölkerungszahl sich deutlich reduziert hat und daher das Risiko für einen Unfalltod statistisch sogar gestiegen ist.

Mit Ihrem "Bemühen" der Statistik und dem nach Ihrer Ansicht daraus folgenden Schluß könnte nun eine "Alles halb so wild"-Argumentation folgen. Die Statistik ist korrekt, die Folgerung meiner Ansicht nach ebenso blanker wie abscheulicher Hohn gegenüber den Opfern und Trauernden. Daher lehne ich den von Ihnen verteidigten Vergleich vehement ab. Es ist nicht die Statistik, die lügt. Es sind die Menschen, die sie instrumentalisieren, um irgendeinen Zweck zu erreichen. Im aktuellen Fall lehne ich darüber hinaus den Zweck der Beschwichtigung ab, der wiederum nur Mittel zum Zweck ist. Dieser besteht meiner Meinung nach aus der Rechtfertigung vergangener Entscheidungen und damit in einem Ablehnen von Verantwortung und in einem bewußten Verharren in Lethargie.

Einen weiteren Punkt finde ich auch noch: Worin besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, die von einer sich bedroht fühlenden Bevölkerung ausgeht? Und wer fühlt sich von ihr gefährdet?

texas-jim   |   01.08.2016, 17:12   |  
(Ich möchte an dieser Stelle noch erwähnen, daß ich bewußt nicht das Vernichtungslager Auschwitz II zum Vergleich herangezogen habe. Ich wollte mit meiner statistisch ja korrekten Zahl nämlich etwas zeigen, ich hatte einen Zweck. Die Zahl bleibt für Auschwitz I korrekt, die Opferzahl in Auschwitz II wird auf 1100000 geschätzt. Aber der Vergleich mit den Verkehrstoten war ja ebenso willkürlich gewählt, um eine höhere Zahl zu erreichen. Ich beanspruche demnach auch für mich dieses Vorgehen, schließlich habe auch ich Tötungen mit Unfällen verglichen und bin somit sogar in einem sehr ähnlichen Bild geblieben.)

arboretum   |   01.08.2016, 23:09   |  
Müssten Sie nicht die Gesamtzahl der Verkehrstoten mit der Gesamtzahl aller in Konzentrationslagern Ermordeten in Bezug setzen - oder aber die Zahl der bei Verkehrsunfällen gestorbenen Radfahrer (Teilmenge) mit den in Auschwitz I Ermordeten (auch eine Teilmenge), damit der Vergleich stimmt?

Gefahrenwahrnehmung hat immer auch etwas damit zu tun, wie viel mediale Aufmerksamkeit etwas bekommt. Darum haben viel mehr Leute Angst vor einem Flugzeugabssturz als vor einem Sturz daheim. Dabei kamen 2014 insgesamt 9.044 Menschen bei Haushaltsunfällen ums Leben, im Schnitt fast 25 pro Tag. Die kommen aber nicht in die "Tagesschau" und es gibt deshalb auch keine Sondersendungen.

Worin besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, die von einer sich bedroht fühlenden Bevölkerung ausgeht?

Dass es in Deutschland dieses Jahr bereits eine höhere Zahl rassistisch motivierte Gewalttaten gegeben hat, haben Sie schon mitbekommen, oder?

Und wer fühlt sich von ihr gefährdet?

Unter anderem auch etliche Deutsche, die jetzt aufgrund ihres Äußeren misstrauisch beäugt oder/und fremdenfeindlich beschimpft werden. Letzgenanntes ist beispielsweise Mohamed Amjahid, Redakteur des Zeit-Magazins, unlängst in der Berliner U-Bahn passiert, wie er auch in einer Kolumne im "Tagesspiegel" schilderte.

texas-jim   |   02.08.2016, 00:06   |  
Zunächst zu den Vergleichszahlen selbst: Mein Punkt ist ja, daß zwei völlig willkürlich ausgewählte Zahlen überhaupt keinen Schluß zulassen. Darum geht es mir.
Mein Vergleich hinkt natürlich gewaltig - ich habe mit dem Jahr 1970 die Höchstzahl an Verkehrstoten ausgewählt, und mit Auschwitz I die wesentlich geringere Opferzahl im Vergleich mit Auschwitz II. Da gehört nichts zusammen, und daher lässt sich auch kein Schluß ziehen, obwohl meine statistische Aussage korrekt wäre, da ich die Einschränkungen, unter denen sie gilt, ja genannt habe. Allein: sie sagt nichts aus. Genau wie der Vergleich, auf den ich mich bezog. Da wurde die Anzahl an Unfalltoten im Straßenverkehr aus einem beliebigen der letzten fünf Jahre (ich habe verschiedene Zahlen gelesen) in ganz Deutschland mit einer Zahl von Opfern verschiedener Gewalttaten in einem willkürlich ausgewählten Zeitraum an willkürlich gewählten Orten verglichen.
Die einzige Chance, die ich einem solchen Vergleich geben würde, wäre der zwischen der Zahl aller Unfalltoten (nicht nur im Straßenverkehr) innerhalb eines Jahres in Deutschland und der Zahl aller Opfer von Gewalttaten im gleichen Zeitraum und ebenfalls in Deutschland. Aber auch da gilt: Ich denke, daß durch einen solchen Vergleich die Opfer von Gewalttaten marginalisiert werden. Als wäre das kein Problem, als müßte man nichts tun. Und diesen Schluß empfinde ich als nicht statthaft.

Daß die Wahrnehmung einer Gefahr auch von der medialen Aufmerksamkeit abhängt, da treffen Sie einen wichtigen Punkt. Leider wird die Art der Berichterstattung nicht entsprechend geahndet, die finde ich zum Teil sehr abstoßend, und ja, auch beängstigend. Gefahrenwahrnehmung hat aber, und das ist jetzt mein Punkt, auch damit zu tun, ob man ein Risiko in irgendeiner Form (auch abstrakt) kennt und annimmt, wie eben den Unfall, oder ob sie einen in Form einer Gewalttat trifft. Und wenn wir bei der Statistik bleiben wollen, kommt das Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, ja zum bereits bekannten Unfallrisiko hinzu, denn selbst bei einer gelungenen, weil unfallfreien, Zugfahrt kann man ja ganz offensichtlich mit Axt und Messer gemeuchelt werden.

Die Zahlen rassistisch motivierter Gewalttaten sind mir nicht exakt bekannt, der Sachverhalt insgesamt jedoch durchaus. Sie machen da ein großes Faß auf, in das ich gleich kurz springen möchte. Vorab jedoch: Der Vergleich bezog sich auf die Angst der letzten paar Tage, auf die Gewalttaten der letzten paar Tage. Ich habe in dieser Woche nichts von einem Anstieg der rassistisch motivierten Gewalttaten gehört. Das läuft doch schon länger, also kann die aktuelle Angst auch nicht der Auslöser für frühere Gewalttaten sein. Über die Motivation durch Angst in den letzten Monaten haben wir schon diskutiert, meine ich. Ich reiche den Link nach, wenn ich ihn finde. Und damals stand ich mit meinem Punkt der Angst recht allein da gegenüber denen, die nur Dummheit und Nazinostalgie als Gründe finden konnten. Das schließe ich nicht aus, im Gegenteil, aber die Eskalation war und ist meiner Meinung nach sehr stark durch Angst begründet. Warum ist es nun auf einmal ein Problem und war es damals nicht, sondern wurde weggewischt? Ich kann mich an einen Satz der Bundeskanzlerin erinnern, daß die Leute eben mehr in die Kirche gehen sollten, wenn sie Angst hätten. Der wirkt mittlerweile doch sehr schal. Man hat die Angst nicht ernst genommen, sondern nur mit Dummheit erklärt, und sich so von der Verpflichtung befreit, zu handeln. Damals war die Angst abstrakt, Konkurrenz um Wohnraum, Geld und Arbeit. Die aktuelle Gewalt hat der Angst ein neues Gesicht gegeben, und einen sehr konkreten Schrecken. (Nochmal mein Punkt an dieser Stelle: Den Menschen die Angst zu nehmen halte ich richtig. Aber dazu muß man etwas tun. Eine simple Beschwichtigung reicht nicht aus. Und ein Vergleich wie der mit den Unfalltoten von irgendwann hinkt nicht nur gewaltig und nimmt die Angst so nicht ernst, sondern er verhöhnt auch noch alle Opfer von Gewalt, und das mag ich nicht, das finde ich ekelhaft.)

Damit komme ich zu Ihrer letzten Antwort: Auch hier hat Ihr Link ein Zeitproblem: Der kurze Artikel ist vom 22.7., München war am späten Abend des selben Tages, Ansbach noch einmal zwei Tage später. Der direkte Zusammenhang ist also wie oben zeitlich nicht gegeben. Ich glaube Ihnen natürlich trotzdem, daß "etliche Deutsche" jetzt Angst haben. Von der einen oder anderen Seite. Interessant finde ich nur, daß Sie gerade die Angst der einen Seite hervorheben, während Sie es offensichtlich(?) nicht schlimm finden, daß die Angst der anderen Seite kleingeredet wird.
Mein Punkt ist aber ein anderer. Und zwar der, daß es hier politisch (nicht direkt!) Verantwortliche für das Wohlergehen der Bevölkerung gibt. Eben die, die Ängste einfach abgetan oder als Dummheit gebrandmarkt haben. Da die Angst nun ein Gesicht und eine Form hat, müßte man nun Verantwortung übernehmen für frühere Handlungen und auch jetzt handeln. Beides wird abgelehnt, stattdessen wird wieder die Angst marginalisiert, als Dummheit gebrandmarkt und lächerlich gemacht. Das ist doch das gleiche Muster wie letztes Jahr, und ich fürchte die Folgen. Mit einem Vergleich zwischen Unfalltoten und Gewaltopfern macht man sich zuletzt auch noch über die "Angsthasen" lustig. Das trägt nicht zur Beruhigung bei, wie es vielleicht gewollt war, sondern dazu, daß die einen sich nicht mehr trauen, ihre Angst zu äußern, weil sie nicht lächerlich gemacht werden wollen. Innere Emigration, Gruppenbildung, alles. Und die anderen, die werden wieder laut und gewalttätig. Hatten wir doch alles schon. Warum nochmal?

(Vielen Dank für Ihren Kommentar. Meine Angst gilt tatsächlich eher dem Zeitpunkt, an dem wir nicht mehr miteinander reden. Gerade, weil wir unterschiedlich denken.)

texas-jim   |   02.08.2016, 00:14   |  
Nachtrag: Wir hatten das mit der Angst tatsächlich schon. Leider habe ich Ihre Antwort damals nicht mehr gelesen, fürchte ich. Ich bitte um Verzeihung, es ist ja zum Glück nicht verloren.

texas-jim   |   02.08.2016, 00:28   |  
Noch ein Zahlennachtrag: Es gab im Jahr 2011 (Quelle) 662 Tötungen in Deutschland, dagegen stehen 3723 Tote durch Verkehrsmittelunfälle (Quelle). Das ist ein Verhältnis von gerundet 1:6.
Ich hätte das Verhältnis wesentlich höher geschätzt. Daher empfinde ich den Vergleich jetzt nicht einmal mehr besonders beruhigend.

solminore   |   02.08.2016, 12:18   |  
Der Vergleich zwischen Verkehrstoten und Auschwitzopfern ist deshalb unzulässig, weil die Opfer in den Lagern nicht zufällig waren; in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt zu werden, ist so gut wie zufällig (wenn ich überhaupt ins Auto steige), Opfer eines Anschlags zu werden, erst recht.

Dennoch bleibt eine Wahl: Niemand muß ins Auto steigen. Und das ist der Punkt. Ich verhöhne nicht Opfer, aber ich verhöhne recht gern Menschen, die jetzt in Panik geraten und öffentliche Orte wie Bahnhöfe oder Flughäfen meiden, dann aber getrost ins Auto steigen und losbrettern. Ich verhöhne auch Menschen, die rauchen und dabei anführen, das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, sei ja nur soundso -- dann aber in der Hoffnung auf den Hauptgewinn Lotto spielen. Da fällt mir nichts mehr zu ein, außer in schallendes Gelächter auszubrechen.

Was die Gefahr betrifft: Ich finde es enorm gefährlich, mit welchen Mitteln man glaubt, der Terrorgefahr steuern zu können, nämlich mit noch mehr Überwachung. Die Angst der Menschen vor Anschlägen wird aber genau dazu instrumentalisiert, und möglicherweise kommt das gerade recht. Ich halte darüber hinaus genau wie Arboretum das Klima des Mißtrauens für gefährlich.

Um aber zu beurteilen, was zu tun ist und ob man überhaupt handeln muß (oder kann), dazu ist erstmal eine Einschätzung der Gefahr erforderlich -- und dazu braucht es eben Zahlen und Vergleiche. Das ist kein Beschwichtigen oder Abwiegeln sondern vernünftig.

Was die Medien produzieren, ist dagegen nichts als Stimmung, ein Gefühl, ein Eindruck. Wir Menschen lassen uns sofort von einer Geschichte oder einem Bild verführen und sind nahezu immun gegen Zahlen -- trotzdem oder gerade deswegen muß man sie anführen. Angst ist ein ganz schlechter Ratgeber.
Mitrauchen
 


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