Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

12.02.15, 14:13 | 'Destination anywhere'
Ich hatte mir ja Konzertkarten gekauft, damals im Dezember. Als es schon hoffnungslos war, nur eben noch nicht so wie jetzt. "Plan mal lieber ohne mich." habe ich da gehört, und dann mußte ich ja zwanghaft etwas planen. Daß dabei alles schiefgehen muß, gehört quasi zum Konzept. Ich sage also die letzte Probe vor dem großen Auftritt ab und ernte Unwillen von denen, die zuvor so viele Proben abgesagt haben. Nun, unwillig kann ich auch.

Ich komme also spät aus dem Büro, dann bleiben eben nur der ausgeleierte Konzertpullover und die Tanzstiefel. Und keine Frisur. Mir egal, heute mag ich keine Menschen, beschließe ich. Ich radle zur Bahn und steige am Hauptbahnhof aus. Die obilgatorische Konzertbutterbrezel brauche ich noch, und mein obligatorisches Luxusgefühl, auf dem Weg zu einem Freizeitvergnügen zu sein, zwischen den Büromenschen hier und den Obdachlosen dort. Die sitzen immer hier und starren Menschen an, oder auch nur Luft. Da sind die latent aggressiven, dort die apathischen. Die Trinker, die sich mit ihren Bierdosen zufuchteln und wichtig und laut diskutieren. Wenn ich nachts zurückkomme, ist es leise dort, und auch jetzt am frühen Abend schlafen die ersten schon im Trubel.

Ich greife mir eine Brezel und noch eine, und packe sie in eine Tüte. Von hinter dem Regal sieht mich kurz eine Frau an, die die Brezeln herrichtet und mit vollen Händen in den Korb packt, aus dem ich sie vorne wieder herausnehme. Ich stelle mir vor, wie durchoptimiert ihre Arbeit ist. Daß es wohl ein spezielles Werkzeug gibt, um die Butter in Stücke zu zerteilen, oder daß die Butter schon in passenden Stücken ankommt. Wie wohl Brezeln industriell geschnitten werden? Ich zahle, und die Kassiererin lächelt mich an. Ich könnte das nicht, mit diesen hektischen Massen, ich würde mich ausgesetzt fühlen in diesem kleinen Käfig mit dem Stuhl und der Kasse.

Ich schlendere nach unten zum Bahnsteig, umkreise eine Schülergruppe, die sich strategisch in einem Durchgang plaziert hat. Ganz kurz habe ich Lust, den Ring einfach zu durchbrechen. Aber nein. Ich steige in irgendeine Bahn und fange an zu essen.



Ganz sauber, die Brösel in die Tüte. Und ich wundere mich gar nicht, daß so lange keine Station kommt. Ich stehe unterm Linienplan, ich stehe unter der Durchsage und unter der Anzeige. Ich fahre hier seit elf Jahren Bahn. Ich stehe in der falschen Bahn, und gleich darauf esse ich meine zweite Brezel frierend am falschen Bahnhof. Mit dem nächsten Zug zurück, und schon haste ich über den Bahnsteig in die gegenüber stehende Bahn. In der Tür merke ich auf - nicht zwei Mal den selben Fehler direkt nacheinander, bitte. Sei nicht doof, Texaner. Ich stehe aber dann doch in der richtigen Bahn, knülle die leere Papiertüte zusammen und stecke sie in eine Tasche.

Am Bahnhof ein Stich. In dieser altehrwürdigen Halle, da standen wir damals, wir haben gewartet, und Du hast in meinem Arm gelegen. Mein Kopf in Deinem Haar, und ich sog Deinen Duft auf, als könnte ich ihn in mir aufbewahren. Es war kalt damals, und es war sehr spät, sehr dunkel und sehr zweisam.



Ich haste nach draußen und suche den ominösen Jugendclub, der auch Konzerte veranstaltet, in diesem kleinen Problemviertel. Ich finde ihn, an der Tür eine kleine Schlange. Brav stelle ich mich in die Reihe. Einer fragt freundlich, ob jemand noch eine Karte braucht, und daß er versetzt worden ist, glaubt man diesem Gesicht sogar. Um mich lauter Kultivierte, und ich scharre zornig mit den Stiefeln. Jacketts, Blazer, Mäntel. Sie haben von der Sängerin in einer Kulturtalkshow erfahren, und ich hasse es ja sehr, nicht underground zu sein. Als Ingenieur und Doktorand, als Spießer um des Spießens Willen. Haha. Aber heute ist Misantrophie, und so bestelle ich mir drinnen wuchtig eine Halbe. Es ist ein Jugendclub, und ich will eigentlich nur wissen, ob ihr das Wort noch kennt. Drei Euro, sagt das Mädchen und reicht mir eine Flasche. Ich bin verblüfft. Flaschen und faire Preise, wo gibt es sowas? Sie siezt mich zwar, aber das hat hoffentlich keiner gehört. Ich sehe mich ein wenig um. Eine riesige Eingangshalle, wie geschleckt. Bodenlange, schwere und sicher teure Vorhänge. Sollen sie das Geld doch in Jugendarbeit stecken, geifere ich. Wo die Konzertplakate mit Klebeband an der Wand hängen, und nicht in gewienerten Glaskästen! Tod und Teufel, und nur ich kann und weiß alles richtig. Alle doof. Sogar ein Zettel an der Wand, mit einem Punktesystem für die Jugendlichen, ist sauber einlaminiert, und ich wäre jetzt gern jugendlich und aggressiv, und dann würde mich die Sauberkeit und diese Geschliffenheit noch wütender machen, mit der man mir einen solchen Palast vor die Nase setzt, um mir zu zeigen, was ich doch für ein toller Mensch werden muß. Ich hätte dann ja lieber ein Kellerloch, in dem ich mit irgendjemandem die Wände selbst streichen darf, und dann wäre das irgendwie auch meins und gehörte mir. Aber was rede ich, das Ding ist da, es funktioniert vielleicht auch, und überhaupt hab ich ja keine Ahnung von Jugend oder Jugendarbeit.

Ich hole mir noch ein Bier, und dabei stoße ich auf einen Zettel. Keine Bilder, keine Videos, keine Audioaufnahmen. Fickt euch, denke ich, aber ich bin schon viel zu lahm, um den Zettel abzureißen. Um mich herum trinken Menschen Roséschorle aus Plastikbechern, und ich möchte mein Bier eigentlich über teure Blazer kippen. Ich komme mir wahnsinnig rebellisch vor, und gleichzeitig finde ich mich selbst ziemlich lächerlich. Was wollte ich noch gleich? Ein Bier. Das Mädchen schaut entsetzt auf die Flasche, die sie mir vor fünf Minuten verkauft hat. Ich trinke schnell, sage ich entschuldigend, aber sie will mir nur noch Becher geben, und der Sicherheitsdienstler findet das auch besser, sagt er. Also ein Plastikbecher, na gut. Und bei den drei Euro war wohl doch kein Pfand dabei, aber das sage ich jetzt einfach nicht, sonst wird alles nur noch schlimmer. Becher. Gnah. Ich stapfe unleidig durch die Gegend und komme mir vor, als müssten mich alle ertragen. Weil ich assi bin und mir die Karten für ihre ach so kulturellen Veranstaltungen trotzdem leisten kann. Ingenieur, Doktorand, is' klar. Mir ist nur gerade danach, alle doof zu finden.

Ich stehe irgendwann in der dritten Reihe. Vor mir sind alle kleiner als ich. Das ist okay, ich recke mich trotzdem. Dann seht ihr halt nix hinter mir. Platz habe ich trotzdem. Dann kommt die Feser. Ui. Ich lasse den Zornschild sinken. Sie trägt goldblondes Haar, offen und lang. Sie trägt Jeans ohne Gürtel, bei denen man am Knopf sehen kann, daß sie getragen sind. Nicht teuer neu getragen gekauft, sondern einfach getragen. Und sie hat das Problem aller schlanken Menschen, daß passende Hosen ein klitzekleines bißchen zu eng aussehen. Was passend aussieht, rutscht. Sie trägt eine knielange, schwarze Jacke, die aussieht wie Papas altes Jackett, nur viel zu groß und sehr ausgeleiert. Sie sagt zwei, drei Worte, und ich falle in dieses warme, tiefe Kissen von einer Stimme, mit dem Gesicht voran. Und ich würde gern nie wieder aufstehen. Bitte hör nicht auf zu reden, flehe ich. Und sie will so viel sagen, daß ihr die Worte nicht reichen. Sie redet mit dem Körper, sie singt so viel Uh und Oh und Ah, daß ich es nicht für möglich halte. Und genau das ist richtig, das erste Lied ist nur Uh und Oh und Ah, und ich bin es auch. Ganz laut. Uh, oh, ah. Ich kenne ja den Text nicht, kenne nur ein einziges Lied von ihr. Aber Uh und Oh und Ah. Laut.

Die Anlage besteht nur aus zwei Boxentürmen, die sicher einen guten Sound machen. Und ziemlichen Druck, Aber hier vorne in der Mitte wird ihre Stimme zu einem Uh, Oh und Ah. Und das ist gut so. Ich verstehe Dich, rufe ich laut, Uh, Oh, Ah!

Auf dem Klavier brennen große Kerzen, am Keyboard steht einer, und auf der anderen Seite einer, der mal Bass und mal Gitarre spielt. Der Schlagzeuger sitzt hinter einer Glaswand, und das finde ich völlig ahnungslos einfach supergut. Wie ich gerade einfach alles supergut finde. Die Pflichtkultürler, die verschreckten Mädchen in der zweiten Reihe, die saftlosen Hemdenträger. Passt auf, ich umarme euch gleich.



Die Liebe ist hier wie schwarzes, schweres Pech, das sie mit ihrem Gesang über das weiße Papier meines Zorns gießt. Der verschwindet nicht nur darunter, sondern er wird eingefärbt, und so lache ich und verliere den Zorn in dieser großen Liebe, die sie so besingt und ausstrahlt. Sie lacht, und ich lache mit ihr. Sie weint fast, und ich weine mit ihr.

Da ist ein Herz in jeder Zeile, und da darf sie auch mal "der Radar" sagen und ein bißchen schwülstig werden. In jedem Song ein Gedanke, in jedem Song ein Herz, in jedem Ton löst sich ein Fetzen Zorn in Liebe auf. Je mehr Zorn, desto mehr Uh, Oh und Ah. Ich schwebe. Sie nennt die Stadt bei ihrem hässlichen Kosenamen, sagt "Schduggi", und sie singt von den Beatles und den Stones, sie besingt die verlorene Liebe und das Glück, das einer nicht will. Sie macht Musik mit dem Mut zum großen Text, und dazu gehört auch, daß es so viel Text gar nicht ist. Uh und Oh und Ah, und genau das singe ich mit, und in der ganzen Halle ist ein Chor davon. Uh und Oh und Ah. Tod und Teufel, sage ich, und nie war in Tod und Teufel mehr Liebe.

Sie steigt von der Bühne, teilt die lockere Menge wie Moses. Sie kommt auf mich zu, lächelt mich an und läuft an mir vorbei, wie sie das alle tun, auf mich zu, an mir vorbei. Und wie alle großen Lieben, so verzeiht ihr meine Liebe auch das. Sie fragt einen, ob er "Single" sei, und sie fragt nach seiner Lieblingsfarbe. "Petrol" sagt er, und als er noch dazu sagt, daß er lieber einen Mann als eine Frau bei sich hätte, da ist ein Lächeln in diesem Saal, und vielleicht auch ein Mann für ihn. So stelle ich mir eine kollektive Liebesdroge vor. Diese Sängerin, diese Stimme, diese Musik, und dazu wird kollektiv geliebt, Oh und Uh und Ah, und ich schäme mich überhaupt nicht, ich habe meinen Zynismus irgendwo verlegt, den braucht doch kein Mensch mehr heute abend.

Mit einer Augenklappe ist sie Peter Pan, nimmt uns mit zur Stadt ohne Skyline, und in die Wohnung zu dem Mann, bei dem sie bleiben wird. Sie besingt die beiden Seiten, und ich weiß plötzlich ganz sicher, daß es nur die beiden geben kann.
Immer dann, immer dann, immer dann
Wenn es greifbar war
Dann war es Dir zu nah
und ich möchte sie herzen, umarmen und heulen.
Ich liebe das Suchen
Mehr als das Finden
Und darum ist es auch hier nicht vorbei
Wenn Du Dich umdrehst, dann werd' ich verschwinden
und ich kenne das, ich sehe mich um, wie alle nicken, es gibt nur diese beiden Seiten, und ich bin mit beiden versöhnt in dieser Musik. Uh, Oh, Ah, Yeah.

Bei der Ansage zum Dezemberkind schlucke ich tief. Ich höre immer Marathonmädchen, ich sehe mich um, denke an die einzelne Karte, die ich gekauft habe, an das Zurückziehen, das Warten, an die letzte, endgültige Absage. Es reicht einfach nicht.
Du zählst beim Laufen jeden Meter
Berechnest jeden Parameter
Und jede Unwahrscheinlichkeit
Ich falle rückwärts durch die Zeit
Bis zu dem Augenblick zurück
An dem Dein erster leerer Blick
Mir Deinen Plan verraten hat
Jetzt ist es wieder meine Stadt
Und das ist so groß in ihrer Hoffnungslosigkeit, in ihrer Verzweiflung, wie sie da die Freiheit, die sie nicht wollte, in den Händen dreht, ungläubig und traurig und sprachlos, Uh, Oh, Ah vor Schmerzen, und sie lässt ihr Herz dann doch nicht auf den Boden fallen, macht es nicht kaputt, sondern trägt es vor sich her, blutend und kaputt und wunderschön, und ich brauche dringend noch ein Bier.

Eine Zugabe allein, und eine zweite würde ich kaum jemandem durchgehen lassen. Eine dritte noch, und da sagt sie es: Ich würde ja gerne noch, aber ich habe keine Lieder mehr. Sie spielen noch etwas Neues, sehr vorsichtig und zart, und aus dem Uh und Oh und Ah wird wieder ein Chor, der mich nach draußen trägt. Bier. Und eine CD. Ich warte in der Schlange, und ich schäme mich plötzlich für meinen ausgeleierten Pullover, für meine fransigen Haare, für mich. Ich wäre gern so schön wie diese Musik, wie diese lachende Göttin, die mich mit ihrer Stimme übergossen hat, süß und warm und duftend. Ich kaufe die CD, für das Shirt reicht natürlich mein Geld nicht mehr. Und dann stehe ich plötzlich bei ihr und stammle, und es tut mir ganz furchtbar leid, betrunken zu sein. Und ich nenne meinen Namen, den sie auf die CD schreibt, mit I bitte, und sie malt ein Herz darauf, und dann nenne ich Esel noch den Namen des Marathonmädchens, und sie lächelt mich an, daß mir wieder ganz warm wird in diesem Blick, und sie schreibt den Namen auf eine Karte, die sie mir gibt. Getrennt, lächelt sie, und ich stammle mit trockenem Hals irgendeine Dummheit, das kann ich ja besonders gut, und dann hat der CD-Verkäufer mein Telefon in der Hand und macht ein Foto, und das macht mich zu genau dem Trottel, den ich hasse, aber heute liebe ich ja nur noch, Uh und Oh und Ah.



Ich muß dann schnell weg, ich suche die Bahn, haste wieder durch die schmerzende Bahnhofshalle, trinke mein Bier in der Bahn.



Und ich denke daran, wie ich in den letzten Tagen und Wochen nur ganz leise um Hilfe rufen mußten, und wie sie alle kamen, um mich zu retten, wie sie ihre Hände nach mir ausstreckten, wie sie mir Zeit schenkten, Ablenkung, Trost und Freude und Wut, wie sie mit allem halfen, und wie ich ihnen allen dankbar bin. Für alles.

Rauchzeichen




pappnase   |   12.02.2015, 16:28   |  
*boah*
mehr geht nicht
Mitrauchen
 

strelnikov   |   12.02.2015, 18:13   |  
Ableitungen, Bierbecher, die CD, das Bild und vor allem der Text.
Ich muss Feierabend machen und meine Gedanken sortieren.
Reinhard Mey möchte wie Orpheus singen, ich würde lieber gern wie texas-jim schreiben können.

pappnase   |   12.02.2015, 18:22   |  
da reiche ich ihnen die hand. die zeit des schreibens kommt leider zu kurz.

texas-jim   |   13.02.2015, 13:58   |  
Haben Sie beide vielen Dank.
Mitrauchen
 


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