Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

12.11.13, 11:34 | 'Tonales Hoeren'
Der "norddeutsche, depressive Gebrauchslyriker", wie er sich nennt, wieder und wieder, und wie er vom Visions-Forum redet und von seiner Frisur, die immer in irgendwelchen "Blogs" auftauche, und er sagt das mit nur angedeuteten Anführungszeichen, denn dieses Andeuten von Anführungszeichen, das gehört zu seiner Ironie, zu seinem Abstand vom Gesagten, genau wie die Geschichte von der Reise durch das Land der Vollbeschäftigung, vom ebenso verächtlichen wie liebevollen Betrachten des ach so langen Wochenendes, von dem Fünfzigjährigen, der ein Foto mit ihm wollte, aber nicht wie ein Groupie aussehen, bitte.
Ich komme mir immer wieder komisch vor, wenn jemand "Blogs" erwähnt, ich fühle mich irgendwie ertappt und schaue mich um. Das da sollen also Blogger sein? Die Herren hinter mir, die sich über ihren Arbeitsweg unterhalten, zwei Stunden lang, und sich am Ende die Hände schütteln und sich gegenseitig nach dem Namen fragen, wie schön. Der junge Herr vor mir, der ein Mädchen in den Arm nimmt, immer wieder küsst er sie, und ich tue das Gleiche, nur mache ich das nicht, solange da vorne einer steht und singt.
Manchmal spielt er auch, und es freut mich, zu sehen, daß er immer nur den gleichen Akkord zu spielen scheint. Immerhin einen, den ich nicht kenne, und auch die Lieder kenne ich alle nicht. Ich erkenne nur seine typische Stimme wieder, die fast an eine Kopfstimme grenzt, hell und klar und leuchtend wie die Bilder, die seine Texte in meinem Kopf malen. Und ich wundere mich ein wenig, wie es mich früher gestört hätte, die Texte nicht zu kennen, nicht mitsingen zu können, und ich ertappe mich dabei, wie ich dem Chor des Publikums nur zuhöre, nur lalala mitsinge manchmal, und außerdem stehen wir sowieso direkt vor dem Mischpult, wegen der Sicht und des Tons, der dann doch zwischendurch ganz furchtbar wird, weil sie das BoomBoomBoom übertreiben oder billige Lautsprecher haben, jedenfalls kratzt es ganz furchtbar, wie eine viel zu kleine Heimanlage auf einer zu groß und zu wild geratenen Party. Ich drehe mich kurz um und erschieße den Mischmeister mit meinem Blick. Der schaut ganz beseelt woandershin, und ich bin mir sicher, daß da jemand seinen Beruf verfehlt hat.
Die Keyboarderin ist jung und wird von ihrem langen Haar verdeckt, sie sieht asiatisch aus und wird dann als Julia vorgestellt, wie er überhaupt mit einer Freude, die man dem "norddeutsch-depressiven Gebrauchslyriker" ansieht und abnimmt, seine ganze Band mehrmals vorstellt, zwischendurch, wie er überhaupt alle seine Scherze wiederholt, abwandelt und überhaupt nicht nervt damit, weil man eben nie so genau weiß, ob zwischen "norddeutsch" und "depressiv" jetzt ein Komma oder ein Bindestrich stehen soll, und welchen Unterschied das jetzt macht. Nuancen, denke ich, und dann werde ich wieder, vom Delta zur Quelle, von überquellenden Bildern erschlagen, und es muß ja nicht immer subtil sein, aber Subtext kann man auch durch Farbe und Fülle erschlagen, denke ich dann. Daß er rockt, denke ich zwischendurch auch, und daß das so gut passt, der Gesang und der Rock, und wieso das sonst kaum einer hinbekommt, und wieso müssen Madsen eigentlich so schreien, oder die Beatsteaks, und dabei passt das ja auch noch bei denen, aber ganz anders irgendwie.
Ich formuliere Abschiedsbriefe, ich spüre meine alten Beine vom vielen Stehen, ich trinke ein Bier aus einem Plastikbecher, und am Ende bin ich nur ganz leicht angeschwitzt, habe mich kaum bewegt, kaum gesungen, dafür ausdauernd geklatscht und mich sehr beglückt gefühlt.


Und es passt zu meiner Ironie, daß das Bild - Du flehst in Telefone, jaja, Lieblingslied - die Vorband zeigt, den grandiosen Rob Lynch, von dem ich in der Umbaupause gleich eine CD kaufe. Ich sage ihm, daß ich sie wegen "My friends & I" kaufe, weil ich den Namen des anderen Supersongs vergessen habe ("Hawking"), und einen Tag später finde ich es selbstverständlich in diesem Internet, das mit den Blogs, und ich finde, wie schon bei Maike Rosa Vogel, die Texte nicht mehr, und irgendwie freut mich das schon ein wenig, jetzt doch Indie zu sein irgendwie, denn vielleicht ist es das, Musik zu lieben, von der keiner die Texte ins Netz klatscht, aber vielleicht ist das auch sehr schade, denn es ist sehr hörenswerte Musik, die mehr Leute kennen sollten, mehr Leute hören sollten, damit auch die Vorband ihre Miete bezahlen kann und sich weiter solche Lieder ausdenken kann, mit
"My friends & I
We got a lot to live for
My friends & I
We live the beatiful life"
mich glücklich und zufrieden macht, und auf dem Heimweg sagt das Mädchen neben mir, daß sie vergessen hat, diese CD auch zu kaufen, und dann habe ich doch keine Hemmungen, meine in ihrer Handtasche zu lassen und zu sagen, Kopier sie doch, Mädchen, deshalb laufen wir jetzt nicht mehr zurück. Und dann sitzen wir nebeneinander in der Bahn, und sie fragt nach meinem Grinsen. Es ist der Londoner Akzent in diesem Lied, sage ich, wie er "Noe, Noe, noe" singt, und wie ihm das schwäbische Publikum antwortet: "Noi, noi, noi", daß ich fast mein Bier verschüttet hätte vor Lachen. Hano.

Rauchzeichen




vert   |   27.11.2013, 01:55   |  
oh, da war ich ja auch neulich. als begleitung, ist ja sonst nicht so meins. aber rocken kann er ja doch.
und den nö-moment hatte ich auch, nur eben in norddeutschland.

texas-jim   |   27.11.2013, 11:31   |  
Der war sehr gut, ja.
Mitrauchen
 


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