Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

10.04.07, 12:11 | 'Heller als tausend Sonnen'
Es ist immer noch Herbst, irgendwie.

Ich rufe Dich an, weil ich Dich dabeihaben möchte. Und weil ich mich zum Telefonieren zwinge, auf dem Balkon meines Großvaters in der Sonne, ans Geländer gelehnt. Früher kamen wir nur zu Weihnachten hierher, das grenzenlose Ein- und Ausgehen der Kindheit war lange nicht so unbeschränkt, eben grenzenlos, wie man selbst immer geglaubt hatte. Die Grenzen waren allerdings unsichtbar, und überhaupt nicht als solche zu erkennen. Sie engten nicht ein, damals. Und heute nennt man sie Anstand.
Ich denke nicht daran, daß ich mich überhaupt nicht darauf konzentriere, mit Dir zu reden. Schutzfunktion vor stummem Auflegen, vielleicht, aber nicht allzu hilfreich, da jedes Gespräch nur stammelnd beginnt. Hallo, also ich...
Dieses beginnt gar nicht, und es stört mich nur, daß ich nie wage, bei Dir zu Hause anzurufen. Letztens hast Du sogar erklärt, wo Dein Telefon lag und wo Du warst, als ich Dich angerufen habe. Vielleicht erkennst Du sie doch, die Abhängigkeit von der Antwort.
Last night a cell phone saved my life. Es tutet völlig rauschfrei, die Stille ist vollkommen leer und tot, ich kann die Digitalnull fast höhnisch lachen hören, und lege auf. Ich laufe heimwärts.
Grade an der Bank, die hier Sparkasse heißt, läutet es, und ich kann Deinen durch die Anzeige wandernden Namen lesen, ruckelnd ob der Länge weil ich keine Namen kastriere, aber verstehen kann ich ihn nicht.

Ja?
"Hey, ich bin 's." So läuft es auch, denke ich und muß fast lachen.
Nach sechseinhalb Minuten sage ich, daß Du jetzt auflegen kannst, weil ich vor Deiner Haustür stehe. Ich sehe Dich schief grinsen, bevor Du auflegst, und jetzt bin ich an der Reihe, die lange Reihe aus Nullen auszulachen. Kampf dem Digitalismus, der sich sogar den Dialekt, den er nicht besiegen kann, einverleibt. Mein neues Telefon kennt "hasch", aber kein "kannsch", und ich gewinne auch diese Runde.
Ich lehne am Auto, und Du sitzt auf dem Stein, und plötzlich ist Sommer. Erst als die Sonne hinter der Scheune verschwindet, gehen wir nach drinnen. Dein Pferd schaut uns hinterher, und der Kies auf dem Hof knirscht. Ostereier schälen, mampfend reden, das verschwiegene "Was muß ich tun?" verdrängen.

Ungewollt stehe ich mit Deinem Vater an der Tür, auf sicherem Terrain, Melkstände und Schlachtgewichte. Du verdrehst die Augen und verabschiedest Dich, und ich werde das Versagen nicht los. Der Kies spritzt und ich hinterlasse zwei tiefe Rinnen, als ich gehe. Dein Vater lacht.

Rauchzeichen