Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Montag, 23. 05 22

23.05.22, 21:45 | 'Der Vollstaendigkeit halber'
Ich bin naiv genug, um entgegen der tiefdunklen Wolkenfront in Richtung des Rasenmähers zu radeln, und doch Stratege genug, um wenigstens eine Jacke im Rucksack mitzunehmen. Optimist bin ich im Nebenberuf ja auch noch, und deshalb habe ich sogar einen Geldbeutel dabei. Nicht, weil ich mir fürs Rasenmähen mehr als Gotteslohn erhoffe, sondern weil auf halber Strecke ein Supermarkt liegt und ich so bei einsetzendem Regen zwar nicht arbeiten, aber doch wenigstens essen kann, was so ziemlich meine Mindestanforderungen an eine Gesellschaft darstellt.
So kommt es, daß ich wenige Minuten später tropfnaß unterm Vordach des Supermarktes stehe und meine Taucherbrille wieder zu ihrer normalen Funktion zu überreden versuche, während vor mir die Automatiktüren zuerst freundlich auffordernd, dann immer entnervter auf und zu fahren. Meine Jacke ist auch naß geworden, was in Verbindung mit ihrem Aufenthaltsort, nämlich dem Inneren meines Rucksacks, schon für einen recht ordentlichen Regenguß spricht. Zumindest das Geld ist noch trocken, und so trete ich meinen Weg durch das Labyrinth aus Regalen an. Allzu günstig Erscheinendes schaue ich durch die Augen einer App an, die eine Möhre im Symbolbild trägt, aber nach einer Palme benannt ist. Mit Apps kenne ich mich nicht besonders gut aus, ebenso wie mit Zusatzstoffen, und daher lasse ich meist liegen, was als "bedenklich" eingestuft wird, und meist sind das sehr billige, fleischhaltige Lebensmittel und Süßigkeiten. Dafür ist meine Lieblingsschokolade im Angebot, also packe ich zwei Tafeln davon ein. Und noch drei, dann hört es sich nicht nach fünfen an. Herrjeh. Normal, versuche ich mich in Kauflaune zu reden, lasse ich die ja liegen, seit sie mehr als einen Euro kostet. Und das tut sie nun wirklich schon einige Jahre. Doch Lieblingsschokolade im Sonderangebot, nun ja. Ich sinniere noch ein wenig vor mich hin, ob die gelegentlichen Sonderpreise nicht vielleicht doch das beste an dieser Sorte sind, oder ob es die schiere Unscheinbarkeit, diese wundervolle Nichtbesonderheit ist, die mich so anzieht. Schokolade halt, und alle irgendwie gearteten "Sorten" lasse ich immer liegen. Nur die Schokolade, und vielleicht packe ich die fünfte Tafel auch nur ein, weil ich zwar naß, aber die Wiese immer noch nicht gemäht sein wird, wenn ich wieder nach Hause radle. Ich grüße ein paar Leute auf dem Weg, von denen ich viele mag und von manchen den Namen nicht mehr weiß. Eine Frau mit schwarzen Locken ist mir sehr vertraut, seit Jahren schon, und immer wieder suche ich in meinem Gedächtnis nach ihrem Namen, wenn wir uns grüßen. Oder wenigstens nach einem Grund, warum mir ihr Name nicht mehr einfallen will. Doch auch den verbirgt mein Gedächtnis vor mir. Es wird wohl klug so sein, denke ich, kauft sie ihren Kindern doch gerade noch ein Eis, bevor sie mich Verwirrten anlacht, wie ich da versonnen in meiner kleinen Regenpfütze stehe.
Ich stelle mich also in die Schlange, vor mir kauft jemand eine Palette Dosenbier. Ob es dafür auch eine App gibt, frage ich mich, werde aber abgelenkt von der Frage, ob es in strömendem Regen allzu weise sein wird, Toilettenpapier auf dem Rad zu transportieren. Man kann ja alles wieder zurücklegen ins Regal in solchen Märkten, und vor allem als Mann, der mit kurzen Hosen durch den Regen radelt, nimmt man mir wohl wenig übel, aber Toilettenpapier zurückzulegen, denke ich, das geht dann doch zu weit. Ich trete in der Schlange einen Schritt zur Seite, um den Mann durchzulassen, der hier die Böden sauberhält. Ich lächle ihn oft an, fühle ich mich ihm doch sehr verbunden, weil ich ja nicht nur für den kleinsten Teil seiner Arbeit verantwortlich bin. Verstohlen schaue ich an mir hinunter, doch zum Glück passt der Rest des Wassers, das mir die nackten Beine hinunterläuft, wohl ganz gut in meine Schuhe. Tut mir leid, murmle ich leise, ich bin leider Optimist. Er schaut nicht auf, das tut er nie, sondern fegt gelassen weiter zwischen den Regalen, den Paletten, den Wühlkörben aus stabilem Metallgestell. Ich lese einen Artikel in einer Tageszeitung, der sich um die richtige Höhe des Mindestlohnes dreht. Eine deutliche Erhöhung steht in diesem Jahr noch an, lang geplant und kurzerhand von der Inflation wohl aufgefressen. Und doch könnte vielleicht ein Vorteil entstehen, wenn die höheren Einkommen nicht so stark steigen wie die niedrigen, wenn sich also am unteren Ende mehr tut als am oberen. Automatisierung, denke ich dann wieder einmal den lang bekannten Gedanken, automatisch denke ich den schon, könnte sich dann in weitere Bereiche hinein lohnen und diese Arbeitsplätze verschwinden lassen. Doch aufhalten lässt sich die Automatisierung wohl nicht mehr, denn entwickelt wird, was einen Markt verspricht, und dazu muß nur das eine billiger oder besser sein als das andere. Ich denke kurz an unseren Staubsaugerroboter, wie er beleidigt alle paar Tage über einem Stuhlbein hängt, als wäre er zielgerichtet auf sein Verderben zu gefahren. Wir scheinen jedoch sehr viel Geld auszugeben für die Forschung, die auch den Staubsauger noch besser fahren lässt, und auch meine Arbeit des Rasenmähens steht längst unter Konkurrenzdruck durch kleinrädrige, summende Automaten. Ob sich aus diesem unweigerlichen Wandel neue Arbeiten ergeben, daran müsste mal jemand forschen, denke ich. Es wäre ein weites Feld. Und die Pferde einst, die Hufschmiede und Wägner, die hat schließlich auch niemand gefragt. Und auch mein Beruf beinhaltet in all seiner Vielfalt stets einen sehr großen Anteil, der mich für viele Stunden still an einem Tisch sitzen und in einen Bildschirm schauen lässt. Nur die Tische, die ändern sich gerade, sodaß ich auch mal stehen kann. Vielleicht entfällt auch eine Arbeit einfach? Die Städte lassen es zumindest vermuten, daß an vielen Plätzen auf das Saubermachen längst verzichtet wird. Ob ein Beruf, eine Aufgabe wohl verzichtbar ist, oder ob ihn jemand vermissen wird? Vielleicht fühlt sich der Mann, der hier die Böden sauberhält, auch damit wohl, ich muß mir den Gedanken wirklich aus den Fängen innerer Korrektheit reißen. Niemand möchte saubermachen, das ist allzu leicht gedacht. Allzu oft begegne ich jedoch Menschen, die sich mein Glück in meiner Arbeit nicht ansatzweise vorstellen mögen. Wer wäre ich also, das für andere zu tun? Wo sind die Linken, denke ich gehässig, wenn man sie doch hier brauchen könnte, statt den Russen die Ukraine zu erklären und den Ukrainern die Russen schmackhaft zu machen? Ich könnte nicht sagen, welcher Mindestlohn zu welchem Ergebnis führt, ich könnte nicht herausfinden, was diejenigen denken, die das betrifft. Die Gelehrten, die mir die Zeitungsartikel schreiben, von denen glaube ich meist nicht einmal, daß sie einen Boden sauberhalten könnten, wenn sie schon die Sprache und damit die Sache nicht beherrschen, mit der sie ihren eigenen Lohn verdienen. Wenn ich also nicht weiß, was kommt, wie soll ich wählen? Ich weiß auch das nicht, und ein Glück, daß keine Wahl ansteht. Ich wüßte doch nicht, was tun. Es regnet noch, und ich ziehe meine Jacke über. Ein Glück, passt sie doch mitsamt dem Einkauf nicht mehr in den Rucksack. Der Mann im Supermarkt kehrt weiter, und auf dem Heimweg kann ich die Maispflänzchen schlürfend jauchzen hören über den Regen nach der Tageswärme. Ich gönne es ihnen gern, und auch der Rasen darf einen Tag noch wachsen.
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