Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Montag, 16. 02 09

16.02.09, 09:49 | 'Buchstaben ueber dem Bett'
Beim Lesen von "Schiffbruch mit Tiger" dachte ich mir, daß es auf keinen Fall ein Jugendbuch sein kann. Ich habe mit den griechischen und deutschen Heldensagen angefangen, vor zwanzig Jahren, und mit den Napoleonischen Kriegen weitergemacht. Und trotzdem. Dieses Buch ist so spannend, daß ich die kleinen Seiten schneller umblättern mußte, als daß ich zwischendurch wieder eine Hand unter die Bettdecke hätte bekommen können. Es ist nicht blutrünstig, aber sehr direkt. Es ist das Buch, bei dem ich ständig dachte: Wie kann man das beschreiben, ohne daß ich grinsen muß, statt ordnungsgemäß zu erschauern? Und dann immer wieder: Das könnte ich so nie wieder lesen, diese Formulierung. Ich habs kapiert. Wie will er die restlichen Seiten füllen? Ich habe den Moment des Aufbruchs hinausgezittert, den Schiffbruch, ja schon das Ende des Schwimmenlernens.
Das Buch möchte, so steht es in der Einleitung, den Glauben an Gott zurückgeben. Darauf habe ich lange gewartet. Doch genau das kam nicht vor. Es kamen sehr kindliche, sehr treffende Beschreibungen der großen Religionen vor, und sogar ein Streit zwischen ihren Vertretern. Doch später kommt der Glaube nur mehr in Halbsätzen vor, in der Verzweiflung des Einsamen, in seiner Hoffnung. Ich hatte nie den Eindruck von zuviel Gott, und das hat mir sehr gefallen beim "Schiffbruch".
Überhaupt der Titel. Schiffbruch mit Tiger. Klingt wie ein Bild, und ich hätte nicht vermutet, daß sich die Geschichte tatsächlich darum dreht, daß ein Junge mit einem bengalischen Tiger und anderem Getier auf einem Rettungsboot im Pazifik - nun ja - strandet. Und als der Tiger ins Boot sprang, da war ich von der Vorgeschichte des Zoos, der Kindheit, des Namens Pi Patel schon so gebannt, daß ich den Rest las wie ein Abenteuerbuch.
Die Betrachtungen über Dressur. Den Bau des Floßes. Den seekranken Tiger. Ich habe die kleinen Geschichten in der großen wirklich gemocht. Und immer wieder habe ich das Buch angesehen, und mir gedacht, daß nun doch alles passiert sein muß, und wie will er denn nun die Seiten füllen? Doch auf jeder Seite ist wieder etwas passiert, das mich fesselte. Und wenn er zuerst einen einzelnen Fischfang beschreibt, weil dieser ihm besonders im Gedächtnis geblieben ist, und danach erst zu den Eigenheiten des Fischfangs kommt, dann ist das nicht chronologisch verkehrt, sondern thematisch genau richtig.
Ich mag das Buch. Dabei habe ich die Parabelform der Geschichte erst mit den beiden Japanern wahrgenommen, die Pi Patel nach seiner Landung im Krankenhaus besuchen, um die Hintergründe des Schiffsunglücks zu klären. Und ich war genauso entsetzt wie die beiden. Das Abenteuerbuch wird in den letzten Seiten zum blutrünstigen, furchtbaren Roman. Und jetzt, mit den neuen Gesichtern, die die Figuren innerhalb weniger Zeilen zugeteilt bekommen, habe ich das Bedürfnis, das Buch sofort noch einmal zu lesen. Ob mir denn nun etwas anderes auffällt? Ob ich meine Sympathien anders verteile, oder dem Affen mehr Aufmerksamkeit widme? Aber ich möchte es nicht gleich wieder lesen. Ich ekle mich vor derselben Geschichte, in der nur die Tiere andere Masken tragen.
In diesen letzten Seiten wirft sich das Buch selbst über den Haufen, und das ist zweifellos eine gelungene Idee. Ich mag es nicht für eine gute Idee halten, weil Ertrinken immer noch besser ist als mit einer Axt zerteilt zu werden, aber was weiß denn ich? Weil sie mich bedrückt zurücklässt, und nachdenklich. Weil sie mich den Ekel anzweifeln lässt, den ich doch für mein aufrichtigstes Gefühl halten möchte. Weil er doch aus dem Magen kommt, der so unkontrollierbar vor sich hin arbeitet, knurrt oder drückt, und mal vorwärts, mal rückwärts.
Das Buch ist keinesfalls eine Gottesgeschichte, sondern eine Moralgeschichte. Eine zweifelhafte, und das gefällt mir sehr. Weil ich mich gern anzweifle. Meine festgewachsenen Sicherheiten anremple, um zu sehen, ob sie bröckeln. Und dazu brauche ich nun wirklich niemanden, der mich mit der Nase auf einen Gott stößt. Eher einen Blinden, der das Bersten von Knochen hört und Algen isst.
# |  2 RauchzeichenGas geben