05.02.25, 15:05
Ich sitze im Auto, als das Telefon das Hintergrundgeräusch des Radios unterbricht. Gerade habe ich noch in die Sonne geschaut, vor wenigen Minuten noch in der Wohnung die frisch zugeputzten Schlitze verspachtelt und verschliffen. Mit wenigen Worten nahm ein Handwerker mir eine große Sorge ab, und so fahre ich staubig und zufrieden vor mich hin. Ganz langsam trocknen die Reste des Fensterschaums auf meiner Hand, und in diesem Moment bin ich mir fast sicher, dass ich es irgendwann lernen werde, nicht in verführerisch frischen Bauschaum zu greifen, um irgendeine Kleinigkeit mit den Fingern nachmodellieren zu wollen. Ich bin also staubig, zufrieden und voller Hoffnung und frei von Gedanken an mehr.
Das Radio zeigt trotz aller möglichen Erlaubnisse nur eine Nummer an statt eines Namens. Ich röhre meinen Namen lang und tief heraus, denn ich weiß im Auto immer nicht, wohin ich denn sprechen soll, so ohne Gegenüber und ohne das Telefon in der Hand. Dann nehme ich den Anruf an und sage meinen Namen ganz normal. Man muss gar nicht immer klüger werden, denke ich kurz, man muss sich manchmal nur selbst überlisten.
Eine Stimme aus der Vergangenheit begrüßt mich, und wie andere auch ist es jemand, mit dem mich ein ganz normales Verwaltungsschicksal einst zusammengebracht hat. Dann war da Sympathie und eine seltsame Anziehungskraft, aber unsere Schulzeiten sind nun wirklich lange her. Dazwischen waren zwei halbe Leben, ein jedes ganz normal und doch beide so verschieden, dass sie uns getrennt und entfernt haben, und vor allem so beschäftigt, dass wir das nicht bemerkten. Immer wieder erinnerte sich einer von uns, mal hier, mal dort, und dann schrieben wir uns, schickten uns Bilder, redeten mal ein paar Sätze. Und so werden die einen Mütter und die anderen Doktoren, sind die einen Profis für Versicherungen und die anderen für Maissilage. Wie seltsam, denke ich in diesem Moment, dass zwischen diesen Welten, die sich aus den Meeren der Vergangenheit wie Inseln erheben, doch Brücken bestehen bleiben, Verbindungen über Raum und Zeit und Lebenswelten hinweg. Und immer gehe ich dann kurz und schwindelfrei über diese schmale Brücke, wie ein Seiltänzer fast schwebend und ohne nach unten zu sehen, ob es diese Verbindung denn überhaupt noch gibt. Und manchmal möchte ich fragen, ob es Dir genauso geht, aber ich weiß doch, das wäre, als würde ich nach unten sehen und aus dem Gleichgewicht geraten, und ich könnte dann nur noch nach unten fallen oder zu Dir vielleicht oder doch nicht. Ich frage nie und genieße stattdessen meinen Seiltänzertraum und die Stimme aus dem Telefon als wohligen Schauer auf der staubigen Haut.
Ich habe nichts an, sagst Du, und wir lachen beide über diesen Einstieg, der einst alles erzählte und heute nichts mehr sagt. Sie stirbt gerade, sagst Du dann, und die Sonne ist ein Eisplanet und jeder Strahl ein Eiszapfen, der auf meiner Scheibe klirrend birst. Ich fahre, ohne zu denken, zwischen den weißen Linien und langsam hinter einem Lastwagen auf der rechten Spur. So muss ich nicht denken und nicht viel tun, und wenn ich ehrlich bin, fahre ich genauso durchs Leben, solang nicht jemand stirbt.
Und ich höre mich reden, als führe ich überhaupt nicht mehr, als säße ich auf dem Beifahrersitz oder auf dem Dach, und ich klammere mich fest, um nicht davongeweht zu werden, um mich nicht zu sehr zu entfernen, nicht zurückzubleiben. Was, denke ich, wenn ich mir davonfahre und mich nicht wiederfinden kann? Und ich höre von Deiner Angst vor dem Tod und dem Sterben und davor, dieses Sterben zu begleiten, ohne es töten zu können. Und ich höre Dich reden und mich dagegenhalten, und durchs Telefon spreche ich in Engelszungen, die sich auf meinem Rücken wie Streiche mit der neunschwänzigen Katze anfühlen, und aus Deinem Hörer lasse ich Balsam triefen, das in meinen Augen wie Gift und Feuer brennt. Komm nicht zu spät, sage ich, wie ich zu spät gekommen bin, sage ich nicht. Fahr gleich dorthin, sage ich, nicht wie ich, der ich viel zu spät losgefahren bin, durch Schnee und Eis über die Alb gerast, als könne ich die Zeit einfangen, sage ich nicht. Sie entscheiden es selbst, wann sie gehen, sage ich, und wir können es ihnen leicht oder schwer machen, und aus Feigheit vor dem letzten Feind, dem Tod, habe ich es mir leicht und einem anderen schwer gemacht, sage ich nicht. Es wird auch Dir helfen, sage ich, und dass ich nach hundert Jahren noch schweißgebadet und schuldig erwache, nachdem ich wieder diese wahnsinnige Nachtfahrt über die Alb durchträumt habe, sage ich nicht. Es gibt auf dieser Reise keine Schmerzen mehr, sage ich, anders als jetzt, wo Trauer ein unzerkaubarer Bissen sein kann und ein Brustring aus Feuer und Eis und eine schwarze Knute, sage ich nicht. Ich sitze noch lang im Auto und begleite Dich, sage ich, auch wenn ich auf jeder meiner Fahrten das Wissen um meine nächste Verspätung mit mir trage, sage ich nicht. Und ich lasse die Fenster herunter, dass es mir den Staub aus den wirren Haaren und die Tränen aus den Augen treibt. Und so reden wir bis ins Parkhaus, und ich presse allen guten Mut durchs Telefon, indem ich einfach in die Luft rede, mich wieder und wieder fragend, wo wir denn hinreden müssten, um irgendwann erhört zu werden. Ich höre Deine Schritte, Deinen Atem, und irgendwann Dich: Ich geh da jetzt rein, sagst Du. Und ich folge nicht, wie ich immer außen vor bleibe, wie wir immer außen vor bleiben, wenn jemand durch diese Tür geht auf diese letzte Reise. Wir bleiben stets zurück und ich bleibe zurück, und noch Stunden später, als ich Knoten und Schlaufen an einem hölzernen Pferd übe, bin ich so unvollständig, als wäre auch ich längst auf dieser Reise, auf der wir alle sind.
Das Radio zeigt trotz aller möglichen Erlaubnisse nur eine Nummer an statt eines Namens. Ich röhre meinen Namen lang und tief heraus, denn ich weiß im Auto immer nicht, wohin ich denn sprechen soll, so ohne Gegenüber und ohne das Telefon in der Hand. Dann nehme ich den Anruf an und sage meinen Namen ganz normal. Man muss gar nicht immer klüger werden, denke ich kurz, man muss sich manchmal nur selbst überlisten.
Eine Stimme aus der Vergangenheit begrüßt mich, und wie andere auch ist es jemand, mit dem mich ein ganz normales Verwaltungsschicksal einst zusammengebracht hat. Dann war da Sympathie und eine seltsame Anziehungskraft, aber unsere Schulzeiten sind nun wirklich lange her. Dazwischen waren zwei halbe Leben, ein jedes ganz normal und doch beide so verschieden, dass sie uns getrennt und entfernt haben, und vor allem so beschäftigt, dass wir das nicht bemerkten. Immer wieder erinnerte sich einer von uns, mal hier, mal dort, und dann schrieben wir uns, schickten uns Bilder, redeten mal ein paar Sätze. Und so werden die einen Mütter und die anderen Doktoren, sind die einen Profis für Versicherungen und die anderen für Maissilage. Wie seltsam, denke ich in diesem Moment, dass zwischen diesen Welten, die sich aus den Meeren der Vergangenheit wie Inseln erheben, doch Brücken bestehen bleiben, Verbindungen über Raum und Zeit und Lebenswelten hinweg. Und immer gehe ich dann kurz und schwindelfrei über diese schmale Brücke, wie ein Seiltänzer fast schwebend und ohne nach unten zu sehen, ob es diese Verbindung denn überhaupt noch gibt. Und manchmal möchte ich fragen, ob es Dir genauso geht, aber ich weiß doch, das wäre, als würde ich nach unten sehen und aus dem Gleichgewicht geraten, und ich könnte dann nur noch nach unten fallen oder zu Dir vielleicht oder doch nicht. Ich frage nie und genieße stattdessen meinen Seiltänzertraum und die Stimme aus dem Telefon als wohligen Schauer auf der staubigen Haut.
Ich habe nichts an, sagst Du, und wir lachen beide über diesen Einstieg, der einst alles erzählte und heute nichts mehr sagt. Sie stirbt gerade, sagst Du dann, und die Sonne ist ein Eisplanet und jeder Strahl ein Eiszapfen, der auf meiner Scheibe klirrend birst. Ich fahre, ohne zu denken, zwischen den weißen Linien und langsam hinter einem Lastwagen auf der rechten Spur. So muss ich nicht denken und nicht viel tun, und wenn ich ehrlich bin, fahre ich genauso durchs Leben, solang nicht jemand stirbt.
Und ich höre mich reden, als führe ich überhaupt nicht mehr, als säße ich auf dem Beifahrersitz oder auf dem Dach, und ich klammere mich fest, um nicht davongeweht zu werden, um mich nicht zu sehr zu entfernen, nicht zurückzubleiben. Was, denke ich, wenn ich mir davonfahre und mich nicht wiederfinden kann? Und ich höre von Deiner Angst vor dem Tod und dem Sterben und davor, dieses Sterben zu begleiten, ohne es töten zu können. Und ich höre Dich reden und mich dagegenhalten, und durchs Telefon spreche ich in Engelszungen, die sich auf meinem Rücken wie Streiche mit der neunschwänzigen Katze anfühlen, und aus Deinem Hörer lasse ich Balsam triefen, das in meinen Augen wie Gift und Feuer brennt. Komm nicht zu spät, sage ich, wie ich zu spät gekommen bin, sage ich nicht. Fahr gleich dorthin, sage ich, nicht wie ich, der ich viel zu spät losgefahren bin, durch Schnee und Eis über die Alb gerast, als könne ich die Zeit einfangen, sage ich nicht. Sie entscheiden es selbst, wann sie gehen, sage ich, und wir können es ihnen leicht oder schwer machen, und aus Feigheit vor dem letzten Feind, dem Tod, habe ich es mir leicht und einem anderen schwer gemacht, sage ich nicht. Es wird auch Dir helfen, sage ich, und dass ich nach hundert Jahren noch schweißgebadet und schuldig erwache, nachdem ich wieder diese wahnsinnige Nachtfahrt über die Alb durchträumt habe, sage ich nicht. Es gibt auf dieser Reise keine Schmerzen mehr, sage ich, anders als jetzt, wo Trauer ein unzerkaubarer Bissen sein kann und ein Brustring aus Feuer und Eis und eine schwarze Knute, sage ich nicht. Ich sitze noch lang im Auto und begleite Dich, sage ich, auch wenn ich auf jeder meiner Fahrten das Wissen um meine nächste Verspätung mit mir trage, sage ich nicht. Und ich lasse die Fenster herunter, dass es mir den Staub aus den wirren Haaren und die Tränen aus den Augen treibt. Und so reden wir bis ins Parkhaus, und ich presse allen guten Mut durchs Telefon, indem ich einfach in die Luft rede, mich wieder und wieder fragend, wo wir denn hinreden müssten, um irgendwann erhört zu werden. Ich höre Deine Schritte, Deinen Atem, und irgendwann Dich: Ich geh da jetzt rein, sagst Du. Und ich folge nicht, wie ich immer außen vor bleibe, wie wir immer außen vor bleiben, wenn jemand durch diese Tür geht auf diese letzte Reise. Wir bleiben stets zurück und ich bleibe zurück, und noch Stunden später, als ich Knoten und Schlaufen an einem hölzernen Pferd übe, bin ich so unvollständig, als wäre auch ich längst auf dieser Reise, auf der wir alle sind.