Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Sonntag, 27. 10 24

27.10.24, 18:39
Von einer großen Liebe bleibt auch, daß ich durch Zufall auf eine Süßigkeit stoße, in einem Supermarktregal nachts um halb zehn. Du hast sie sehr gemocht, erinnere ich mich, und an Deinen freudigen Ausruf, als wir sie bei einem gemeinsamen Einkauf entdeckten. Vielleicht hätte ich sie öfter für Dich kaufen sollen, denke ich, als ich auf meinem einzelnen hölzernen Klappstuhl in diesem leeren Raum am Tisch sitze. Denn sie schmeckt ja wirklich wunderbar süß, und nur ganz leicht bitter nach Erinnerung.

#
Von einem langen Abend mit zwei Freunden und einigen Paketen Parkett bleibt mir für einige Stunden der Sägestaub im Haar hängen, für einige Tage ein etwas lahmer Rücken und hoffentlich für die Ewigkeit ein Gefühl von Freundschaft, von der Freude an der Notwendigkeit, vom Eifer zur schönen Arbeit und von der Wärme, die ein nächtliches Bier in mir verbreiten kann.

#
Von einem Telefonat mit einer Begeisterten bleibt mir die Idee, dass immer auch alles ganz, ganz anders sein kann. Lange Strecken durch den Spätherbst radeln. Entfernten Freunden wieder einmal nahekommen. Arbeit am Selbst, Arbeit am Eigenen, anstelle von Abarbeiten des Notwendigen.

#
Wenn man mich einst einen Hagenbüchenen nennen wird dürfen, wird dieses Wort wie vieles andere längst verschwunden sein. Mir scheint manchmal, ich ginge um Jahrzehnte nach.

#
Im Radio das Lied einer Band, die ich durch eine fand, die mir freund ist. Ich drehe laut und singe meine drei Minuten Schlepperdisco in der Dunkelheit, die den Mittelpunkt meiner vielen Scheinwerfer bildet. Ich sitze im Dunkel der Kabine, ich sitze im Licht des Schleppers. Wie man es nimmt, und irgendwann nehme ich den letzten Fetzen dieses Liedes auf und schicke ihn ihr zum Gruß und zum Gedenken.

#
Der frühe Sonntagmorgen sieht mich kaum durch den blickdichten Nebel, der sich vor meinem Frontlader zäh nur öffnet. Ich fahre über leere Landstraßen, räume den letzten, nun wirklich allerletzten Mais der Saison ins Silo. Die Schönheit der Planie, und wie erst ein wirklicher Fahrer aus einem Schlepper eine Maschine macht, die arbeitet. Im Radio ein Beitrag über die Verstorbenen, passend zu Allerheiligen, sagen sie, und der eigentlich passende Feiertag Allerseelen ist damit wohl endgültig verschwunden. Ein seltsames Gebrauchschristentum haben wir uns in den letzten Jahrzehnten gebaut, denke ich mir, als Vehikel für Freizeit und Freude und befreit von aller Mühe. Dann spricht Ringlstetter, der von mir unbemerkt ein Buch geschrieben hat, über seinen verstorbenen Vater, und über meinen Augen liegt ein Film aus salzigem Wasser. Ich blinzle, bewege die Hände und die Füße weiter, ohne nachzudenken, Frontlader hoch und runter, Walze links und rechts, Schlepper vor- und rückwärts, und heule schließlich stumm und bitter in meiner schwankenden Glaskabine, wo ich von allen Seiten sichtbar sitze und wo mich doch niemand sieht. Und weil die Hände ihre Plätze an den Hebeln haben, wie die Füße ihre an den Pedalen, laufen mir dicke Tränen übers Gesicht in breiten Bahnen. Kühle Spuren auf meinen klimatisierten Wangen. Für einen Moment schaue ich nach unten und habe die Knie zusammengeklemmt, damit mir kein Tropfen auf den teuren Sitz gerät. Ich heule, frei und innig und bitter in Erinnerung an die Särge, die ich schon getragen habe, und in Erwartung derer, die ich noch tragen werde müssen. Stets war ich eine Schulter unter vielen, denn als Enkel sind wir zahlreich. Es schlägt mich der Gedanke, dass ich beim nächsten Sarg allein sein werde, und daß ich diesem einen Gang nicht werde ausweichen können. Daß ich weder den Tag noch die Stunde kenne, gehört zu den wenigen Mahnungen, die ich erhalten habe, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, ob ich diesen Sarg werde tragen können, wie ich mich immer, immer wieder finde in Gedanken, ob das Unmögliche nicht doch zu tun sein könnte, wenn nur für einen Moment möglichst keiner zuschaut. Ich schelte mich einen Narren, doch das hilft schon zwei Dutzend Jahre lang nicht weiter. Ich schimpfe mich einen rührseligen Narren, doch hat der Schlag mich allzu hart getroffen, als steckte die Faust selbst noch in meiner Brust, und ich spüre jeden Herzschlag mühsam, schmerzhaft, und doch ohne Unterlass. Ich möchte mich weiter schelten und schimpfen, doch versagt mir die Stimme, und so hänge ich das Funkgerät wieder ein, ohne den Knopf zu drücken. Stattdessen winke ich dem Fahrer in der Ferne nur. Und wie das Herz mir schlagen muss, werde ich einst tragen müssen. Heute steigt der Nebel wohl, doch gibt er den Blick nicht frei, löst sich nicht auf und bleibt als Dieb der Farben und des Lichts. Heute weine ich in Erwartung, als ob ich damit dem Unausweichlichen die Härte abschleifen, dem kommenden Schmerz die Erträglichkeit abbitten könnte. Ich will nicht und werde müssen. Ich schnaube Tränen von der Nasenspitze und verteile noch einen Wagen Mais im Silo. Irgendwann lässt die verfluchte Heulerei nach, und irgendwann auch der Druck des Schlages. Ich weiß nicht, wie das vergangen ist, doch habe ich gelernt, an frische Wunden und alte Wunder möglichst nicht zu rühren.
# |  Rauchfrei | Gas geben