Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.
Montag, 2. 09 24

02.09.24, 10:06
Allein wäre ich ja nicht los, wo ich eben so schön bei der Arbeit war. Und zuletzt lief sogar der Füller, der trotz aller Reinigungsversuche trocken blieb, ein oder zwei Notizseiten lang ganz adrett, und dann lief er aus. Wir packten also an einem Sonntagmorgen unsere Sachen in Rucksäcke, diese in ein Auto, fuhren los und ich ließ den Füller wieder eintrocknen. Und um der Geschichte die Spannung zu nehmen: eine Woche später schreibt er wieder tadellos. So sorgt Urlaub also für Erholung.

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Mein Teil der Planung bestand darin, Wegpunkte für jede Unterkunft in meinem Telefon anzulegen und mögliche Routen zu speichern. Ich bin beim Radeln recht entspannt, da die dahinterstehende Tätigkeit des Pedalierens nicht allzu schwierig ist, und ich bin beim Übernachten recht entspannt, da ich fast überall schlafen kann, und es nicht allzu schlimm für mich ist, wenn nicht.

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Natürlich bestand mein Teil nicht nur aus Planung, sondern auch aus Vorbereitung. Doch diese akkumuliert sich bereits über Jahrzehnte, und so besitze ich die richtige Kleidung einfach, den richtigen weil einzigen Rucksack ebenso, und an einem Rad, das fast jeden Tag bewegt wird, geht einfach weniger kaputt. Es gibt in der Welt der Ingenieure diese Badewannenkurve, bei der man zu Beginn der Lebensdauer an einem hohen Rand steht. Dieser hohe Rand bedeutet, dass viele Schäden auftreten, die direkt durch schlechtes Material oder Fehler in der Montage verursacht werden. Dann bewegt man sich sehr lang, vermutlich der Länge nach, durch den Grund der Badewanne. Dort treten sehr wenige Fehler auf, denn alles wurde dafür gebaut, das zu tun, was in der Lebensdauer eben passieren soll. Am Ende steigt die Badewanne sacht, aber deutlich an - es treten also wieder vermehrt Schäden auf, wenn Teile durch Alterung, Abnutzung oder konstruktive Mängel an ihr Lebensende geraten. Und machen wir uns nichts vor, Lebensdauern sind endlich, und ein Fahrrad, bei dem alles auf die sogenannte Dauerfestigkeit ausgelegt wurde, würden wir nicht fahren wollen. Verschleiß existiert, und vielleicht ist nach gut zehn Jahren und einem fadenscheinig bis durchsichtig werdenden Hinterteil auch die Polsterung einer Radlerhose einmal an ihrem Ende. Darauf komme ich nach etwa dreißig Kilometern erstmals, und in den folgenden Tagen immer wieder. Wie auch immer, ich habe großes Vertrauen in mein Rad, mittleres Vertrauen in meine Beine und gerade so genug Vertrauen in meinen Kopf, den Beinen lang genug die Richtung anzuweisen, um fast überall ankommen zu können. Ans Rad packe ich meine über die Jahre gewachsene Rahmentasche, in der ein Fläschchen Öl, umwickelt von einem Damenunterhemd unbekannter Herkunft in einer Plastiktüte vegetiert. Dazu Flickzeug, ein Schlauch und mein geliebtes Multiwerkzeug, ein sehr kleines Taschenmesser und einige Kabelbinder, und speziell für die Berge ein Satz Bremsbeläge. Irgendwas davon wird während meiner Abwesenheit verboten werden, doch ab der Schweizer Grenze habe ich kein mobiles Internet mehr, und nachdem ich einen Tag brauche, um das zu kapieren, reicht mir der Rest der Woche nicht mehr, um dafür sechzehn Euro investieren zu wollen, und so bekomme ich das alles nicht mehr mit. Überhaupt bekomme ich den Grenzübertritt gar nicht mit, da wir im Zickzack durch Wohngebiete und über Feld- und Radwege radeln und plötzlich an einer sehr schicken Kraftwerksbrücke sind, wo wir den Rhein überqueren und natürlich ein Bildchen machen.

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Ein erster und einziger Plattfuß, und aus meinem Flickzeug kommt gerade dafür noch genug Vulkanisierlösung. Aufrauhen, einschmieren, pusten, Flicken aufkleben und der Trick: Mit dem Reifenheber den Flicken in den Schlauch massieren. Das Orange des Flickens und das Schwarz des Schlauchs gehen eine lustige Farbverbindung ein, und dann ist das auch dicht. Meine kleine Pumpe, die ich vor zig Jahren auf eine Empfehlung aus dem Internet gekauft habe, tut ihren Dienst. Badewannenkurve, ich sage es ja, und so gehe ich am liebsten mit gut genutzter Ausrüstung auf Tour.

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Aus grauer Städte Mauern, singe ich vor mich hin, doch der Himmel hat auch überm Land eine ähnliche Farbe. Dann ist es schon nicht so heiß, denke ich mir vergnügt, und ich werde mich morgen etwas weniger vor meinem Unterhemd ekeln. Und dann beginnt auch schon, was mich die nächsten Tage begleiten wird: ich mache mir ein Bild von der Schweiz, und ich suhle mich wohlig in Gedanken. Beim Radeln dürfen sie kommen und gehen, und für jeden von ihnen ist Zeit. Laufenlassen.


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Es gibt hier Umleitungen für Fahrradfahrer. Das ist zwar einerseits schlecht, denn Umleitungen bringen uns ja vom Weg ab, und vor allem zu Beginn bin ich sehr misstrauisch, ob da nicht ein zusätzlicher Höhenkilometer auf uns lauert. Doch die Umleitungen sind stets notwendig, weil auf allen Baustellen auch wirklich gebaut wird, und sie erweisen sich immer als sinnvoll und kurzweilig. Dazu landschaftlich stets schön, aber Kunststück! murmle ich vor mich hin, bei einem Land, das Berge hat. Und mal ehrlich, einem solchen Schild würde ich wohl bis ans Ende der Welt folgen.


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Weil ein Urlaubstag nur mit einem Eis gültig wird, kehren wir ein. Unser Zielort hat keinen Gasthof, sagt meine Karte, die sich in dieser Hinsicht noch als Lügenkarte erweisen wird, und was sind schon ein paar hundert zusätzliche Höhenmeter auf dieser völlig leeren Straße gegen ein Eis? Die Tankstelle, die ich dafür ausgesucht habe, erweist sich jedoch als Tankautomat, der seinen Zweck natürlich sicher erfüllt, uns aber kein Eis verkauft. Etwas versteckt ein Dorfgasthof, und weil es so ruhig ist, bin ich ganz unsicher ob der Öffnungszeiten. Außerdem ist alles so sauber hier, daß ich mein dreckiges Rad kaum anlehnen möchte. Und es einfach auf den Gehsteig zu legen, käme in der Schweiz wohl niemandem in den Sinn. Wir stehen also, bis ich mir ein Herz fasse, und im Gasthof eine nette Wirtin und eine Gruppe junger Menschen, die allerhand essen. Wir wollen nur ein Eis, und wir würden gern in unserer Währung bezahlen. Denn diesen Teil hatte ich zwar vorbereitet, aber nur gedanklich. Bank, Karte, Geld. Es scheiterte an der Bank, doch waren wir noch nicht weit genug im Land, als dass man unser mageres Papiergeld nicht als solches erkannt hätte. Einszueins, sagt die Wirtin freundlich über die Schulter zu ihrem Mann, und der nickt ebenso freundlich und sagt: Weil's heute ist. Ich habe keinen Wechselkurs im Kopf, bin in der Schweiz jedoch auf alle Preise eingestellt, und am ersten Urlaubstag bereit, auch jeden Preis für einen Eisbecher zu bezahlen. Und ich merke, wie lange ich nachdenken muss, ob das nun freundlich war, und so mache ich mir ein Bild von der Schweiz, indem ich ein Bild von mir selbst zeichne. Erklären kann man wohl nur sich selbst, und auch das nur kümmerlich.

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Unser Ziel ist eine Schreinerei, ein kleiner Handwerksbetrieb, der vollgestopft ist bis zur Unmöglichkeit, sich berührungslos zu bewegen. Wir dürfen die Toilette in der Werkstatt benutzen, wie der junge Mann, der unseren abwesenden Gastwirt vertritt, uns mitteilt - Mittelsauber, immerhin! sagt er - oder die andere, und er führt uns eine verwirrende Zahl an Treppen auf- und abwärts, bis ich tatsächlich nicht mehr sagen kann, ob ich nun schon auf dem Matterhorn war, oder ob das eine versteckte Halbebene weiter oben liegt. Ich werde diese Toilette tatsächlich nicht wiederfinden. Dafür finde ich unter einer der Treppen eine Dusche, deren Wand liebevoll mit Kronkorken verziert ist, und einen Kronleuchter haben wir auch, was soll uns passieren.

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Am nächsten Morgen ziehen wir die Tür der Werkstatt hinter uns zu und sind damit wieder zu Vagabunden geworden. Mit einem Ziel, immerhin, und mit dem Rucksack mit dem Nötigsten. Ich bemesse meine Kleidung knapp, lasse das Rasierzeug weg und nehme dafür meine geliebte elektrische Zahnbürste mit. Den Rucksack füllen dann Äpfel und Schokobrötchen für den Tag. Voll wird er immer. Ebenso füllen die Gedanken den Tag. Die Frage, wohin wir fahren, ist durch die Buchung schon gelöst, und so richten sich die Fragen auf die Route selbst, auf die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln entlang der Route, und wo man unterwegs ein Eis bekommt, oder sich unterstellen könnte, oder wie man die vielen Kilometer auch bei Regen durchzieht. So ist das also, denke ich, so füllt sich der Rucksack, so füllen die Gedanken den Kopf, und die Sorgen und Problemchen das Leben, und sie werden durch Pläne und Ziele nicht weniger, sondern nur anders. Wenn ich ohne Ziel radle, sorge ich mich um einen Schlafplatz für die Nacht, und wenn ich ein Ziel habe, darum, ob und wie ich es erreichen kann. Die Sorge füllt den Raum, den ich ihr gebe, und wie ich mit meinem alten, kleinen Rucksack recht zufrieden bin, möchte ich vielleicht mein Sorgentäschlein klein halten. Immerhin, so denke ich bei mir, muss ich mich nicht um ein teures Rad und einen Akku sorgen. Denn das Rad hat keinen, und das Telefon lädt tapfer am Nabendynamo, der sich dreht, solang ich treten kann.

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Am See eine winzige Hütte, nur für uns, in die gerade so ein Bett passt. Davor zwei Stühle unterm Vordach, und ich überlege, was ich noch brauchen könnte. Mir fällt nichts ein für heute, und so beschließe ich, ein glücklicher Mensch zu sein. Am See auch ein Bänkchen, auf dem ich sitzen und über die kleinen Wellen schauen kann, die von den Booten zu mir getrieben werden. Der See gluckst leise, und ich bin ihm dankbar dafür.

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Der Weg, dem wir folgen, wird für eine sehr kurze Strecke unterbrochen. Man hat ihn einst angelegt mit dem Gedanken, radelnden Touristen einige schöne Ecken des Landes zu zeigen auf ihren Wegen durch Europa. Und die radelnden Touristen sind gekommen, nur sind die autofahrenden Touristen nicht ausgeblieben. Es kam also zu Unfällen auf den Straßen, die durch ihre Enge gar noch schöner werden, weil alle da sind und alle nach der Schönheit gucken statt nach den anderen. Was lag also näher, als die Straße auf einem kurzen Stück wieder für die Radfahrer zu sperren, damit die aus den Autos besser schauen können? Doch mein Bild der Schweiz wäre nicht vollständig ohne die pragmatische Lösung, genannt Veloverlad. Je öfter ich das vor mich hin sage an diesem Tag, umso lieber wird mir das Wort. EFI, sage ich mir, denn EFI mag ich, und es bedeutet Every Fucking Inch, also Treten statt Verladen, und so wähle ich eine Route oberhalb. Es geht lang bergauf, und es wird noch ein Weilchen länger bergan gehen, sagt einer, den wir treffen. Das freut mich, denn ich fahre gern bergauf. Ich schwitze gern und weine einem salzigen Tropfen keine Träne nach. Außer, er läuft mir in die Augen, was eine Neuigkeit ist, und so stehe ich ab und an halbblind am Straßenrand und schüttle den Kopf, damit die Tropfen fliegen. Vermutlich führen die Falten, denke ich, von der Stirn nun direkt in meine Augen, und wer hat sich das denn ausgedacht, und wenn ich den erwische! Der, den wir treffen, ist ein Senior, der kaum zu schwitzen scheint, uns aber zu einer tollen Abfahrt am Ende unserer Strecke beglückwünscht. Das führt dazu, dass wir frühzeitig abfahren, denn Abfahrten, die mag man oder mag man nicht. Und so stehen wir, nachdem wir die Umfahrung zwar bergauf erkämpft haben, nun doch am Veloverlad, und sind auf etwas ungewöhnlichem, aber sehr direktem Wege von oben gekommen, wo riesige Autos vor etwas stehen, das Menschen anzieht, die riesige Autos fahren. Ich sehe mich dort um, als wir abfahren, das schattige Vorzelt und den tatsächlich roten Teppich, der ins Hotel führt. Gegenüber Minigolf und eine Kartbahn, und tatsächlich habe ich einst mit großem Vergnügen einmal Minigolf gespielt, und wenn es das ist, was mich mit Menschen verbindet, die große Autos fahren, könnte ich mir Schlimmeres vorstellen.

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In der Sonne am See stehen wir dann und sehen den Autos zu, deren Weg nicht versperrt ist, und ich rühme die Schweizer Pünktlichkeit und werde erst eine Minute danach reichlich unwirsch. Es ist heiß hier in der Sonne, und vielleicht haben sie das Vorzelt dort oben vor allem für die verschleierten Damen in den langen Kleidern aufgestellt, überlege ich und komme auf den seltsamen Gedanken, was ich eintauschen würde gegen das Gebot, mich fortan langärmelig und mit Schleier zu bewegen. Die teuren Handtaschen schon einmal nicht, und auch die darin verborgenen Plastikkarten des Reichtums geben mir nicht genug, denke ich, und auch die großen Autos nicht. Ein Leben in Reichtum stelle ich mir anders vor, doch wie? Verschwitzt und mit knapp bemessenem Wasservorrat auf den Veloverlad zu warten ist es schon mal nicht, und ich finde heraus, dass es nur das Warten ist, was mich daran stört. Könnte ich oben fahren, es gäbe keinen größeren Reichtum für mich in diesem Moment. Und ich bin kurz davor, wieder den Weg nach oben zu nehmen, als der Veloverlad eintrifft, in Form eines Kleinbusses mit einem Fahrradanhänger und einem sehr lustigen Fahrer, neben dem bereits ein Rennradler sitzt. Wir verladen also, und wir zahlen nix, denn wer sperrt, zahlt den Verlad. So ist das in der Schweiz, und ich stelle mir dazu eine sehr einfache Entscheidung in irgendeinem Veloverladegremium vor, wo alle nicken und sich dann wieder ihrer Arbeit zuwenden. Der Bus fährt, als ob der Henker hinter uns her wäre, aber das kann er ja auch tun, es sind ja keine Radfahrer auf der Straße, und so stehen wir nur wenige Minuten später zwei Kilometer weiter auf einem anderen Parkplatz, von dem aus wir uns in den Verkehr einfädeln müssen, der plötzlich viel weniger gefährlich sein soll. Das ist ein bisschen lustig und ein bisschen gefährlich, was ja oft miteinander einhergeht, und sehr schnell stehen wir dann auf unserem eigenen Weg, auf den kein Auto darf, und wir sehen den See, während sie durch Tunnel müssen, und wenn man mich so schnell versöhnen kann, warum fällt mir dann nichts ein, was mich unter einen Schleier bringen könnte? Es liegt, so glaube ich irgendwann, als ich mich wieder frei und ohne Bus mit meinem Rad bewegen kann, an ebendieser Freiheit der Bewegung. Wie wollte ich radeln und in der Sonne schwitzen, und tatsächlich scheint das mein Preis zu sein, der keine Verhandlungsbasis kennt.

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Man hängt hier sehr am Tell, stelle ich fest, und wenn ich überholt werde, denke ich, dass sie ihren Tell vielleicht einfach anders interpretieren. Dass sie schießen müssen immerzu, und irgendein Ziel schon treffen werden, und wenn nicht, dann wird man sehen. Das denke ich mir, während ich radle und sie nah und näher, schnell und schneller werden mit den Autos, und daheim stünde ich längst schimpfend auf dem Rad, während mich hier der Nebenweg auf Abstand bringt, und der Ausblick auf Gedanken.


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Wir nehmen den Weg über den Gotthard, wie es die Menschen seit Urzeiten tun. Und mich beeindrucken die Wege und Brücken, die sie in das enge Tal schnitzen. Der Weg in den Hang geschlagen, die Straße als Galerie betoniert, die Autobahn auf Pfeilern darüber, und dazwischen schlängelt sich die Eisenbahn. Irgendwo abgebrochene Fundamente alter Brücken, die zu klein geworden waren, zu wenig tragfähig für immer mehr Menschen und immer schwerere Fahrzeuge. Wie ich so vor mich hin trete, frage ich mich, wann einer in seiner Bürostube auf den Gedanken kommt, die nächste Straße einfach von Grat zu Grat quer übers Tal zu spannen, es der Länge nach zu bedecken, bedeckeln, und vielleicht ist der Gedanke schon aus der Bürostube in den Diskutierzimmern angekommen, wo sie freundlich überlegen, wie viele Luftlöcher man den Kriechern drunter lassen sollte, oder ob es vielleicht transparentes Baumaterial geben könne für ein wenig Licht. Es sind aber auch arg viele Abgase, die sich hier sammeln, und sie schlagen mir aufs Gemüt, wie es mir aufs Gemüt schlägt, sonst auch eben auch einer dieser Brückenfahrer zu sein, gern breit und ohne Blick nach unten. Ich stehe dann lang am Pfaffensprung und stelle mir vor, von Fels zu Fels zu hüpfen, und ich kann mir selbst genug Angst machen, bis ich die Brücken wieder verstehe.

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Mich begeistert die Nutzung des knappen Raumes. Ich sehe steilste Wiesen, die gemäht werden, bis zentimetergenau an die Wegekante, und jeder Zaunpfosten sieht aus, als wäre er vom Biber angefressen, denn um ihn herum wird mit dem Fadenmäher gearbeitet, und dann das wenige Gras vom Weg auf die Wiese geblasen und gerecht, damit nichts davon verlorengeht. Überhaupt duftet das Gras hier nach meiner Kindheit, links auf dem Kotflügel des Hinterrades sitzend, während der Opa mit dem Strohhut in der Mitte sitzt und wir das Heu wenden in den steilen Wiesen. Der Duft ist verlorengegangen, die steilen Wiesen bewirtschaften wir nicht mehr, es kamen die Kabinen und irgendwann die Klimaanlagen, und alles davon ist Verbesserung, fürwahr, und doch, ziehe ich hilflos die Schultern hoch vor lauter Unabwendbarkeit, mit der wir in die Zukunft getragen werden vom Strom der Zeiten, und die frühen Siloschnitte und die Gülle, die Wiesennachsaat und das Striegeln, und heute haben wir die Silos voll und voller, doch den Duft, den haben wir verloren mit den Kräutern und dem Heu, ganz langsam, kaum bemerkt und vor lauter Verbesserung auch nie beklagt. Ich sehe einen schwitzen hinter seinem Motormäher, und ich bin selbst schon hinter Motormähern hergelaufen und weiß nicht, ob ich das für meinen Lebensunterhalt tun könnte, und ob es für ein Leben reichen würde, weiß ich schon gleich gar nicht. Unabwendbarkeit und Verbesserung fürwahr, und doch bin ich froh, dass meine Erinnerungen bis in die Zeit davor zurückreichen, auch wenn ich Kind war, und meine größte Sorge eines Sommers die riesige Brandblase am Fuß, weil ich barfuß auf den Auspuff getreten war, der beim Dieselross als Aufstieg diente. Auch dieser Duft durch die Mangel der Erinnerung zu einem schönen gewrungen, denke ich.

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Wir sind früh da, wo sie einen neuen Tunnel bohren, und durch Zufall geraten wir in eine Führung für Fachkundige, mit unseren Radlerhosen und Rucksäcken, und lauschen lange still, bis uns tatsächlich einer fragt, ob wir noch Fragen haben. Und wenn ich neben Sorgen für irgendwas ein Plätzchen habe, dann sind das Fragen, und so erzählt er davon, wie sie die neuen Häuser für die Arbeiter gebaut haben, mit der Idee, dass nach der Baustelle daraus gleich eine Jugendherberge gemacht wird, und aus der Kantine ein Gemeindezentrum, und es klingt hier alles nach Sinn und Verstand und Vernunft, und in diesem Moment möchte ich nichts anderes als Tunnelbohrer werden, und Schweizer natürlich, vermisse ich doch nichts mehr als Rädchen, die ineinandergreifen, und Menschen, die an einem Strang ziehen, und vielleicht fehlt mir das in meinem Land des schulterzuckenden Kannmannixmachen, und ich weiß doch, dass die letzte Zeit, in der es diese Rädchen und diesen Strang gab, die halbe Welt in Trümmer fliegen musste, aber es muss doch, so hoffe ich, auch ohne gehen, mit einem guten und gemeinsamen Ziel vielleicht, und wenn es nur ein Tunnel ist.

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Wir radeln dann, um der Gedankendunkelheit meines eigenen Tunnels zu entfliehen, nach oben. Wohin sonst, denke ich, und ich schwitze auf das Oberrohr und auf mein Täschlein, in dem das Telefon vor sich hin glüht. Funktionen temperaturbedingt eingeschränkt, sagt es, und Unbeabsichtigtes Berührern verhindert, und wahrscheinlich ist vieles von dem, was ich in der Hitze vor mich hin sage, ähnlich wenig hilfreich. Die Füße im eiskalten Wasser, das vom Gletscher kommt. Dem nähern wir uns bis zur Staumauer des Sees, und das ist eine völlig willkürliche Zielsetzung, für die wir uns trotzdem abkämpfen, und vielleicht beschreibt mich das ganz gut, wenn man bedenkt, dass mir durch die tiefstehende Sonne dort oben nicht einmal mehr ein anständiges Foto mehr gelingen mag.


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Der Gletscher stirbt, und damit fliesst das Wasser. Es ist ein Trost und eine Hoffnung, dass immer was entsteht, wo etwas anderes vergeht. Und auf dem Weg zurück ins Tal erzähle ich mir von meinen kleinen Hoffnungen und davon, dass ich immerhin ein Mal, ein einziges Mal hinterm Büro die Ski anschnallen konnte.

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Wasserfälle, Brücken, das Denkmal eines Schlachtenlenkers, auf den ich gestoßen bin, weil er sich nach seiner ganzen Schlachterei für kurze Zeit in der Stadt ausgeruht hat, an deren Rand ich arbeite, und wo man ein Wäldchen nach denen benannt hat, die nur noch die ewige Ruhe finden konnten. Dann wird die Landschaft karg, die Straße breit, und ich bin dankbar um den Asphalt, um jeden Tropfen weißer Farbe, der auch einen Hilflosen wie mich in diese Landschaft bringt.


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Ich lerne, dass der Gotthardpass nicht die Grenze zu Italien ist. Dass die alte Gotthardstrasse auch auf ihrer Südseite nicht für Autos gesperrt ist. Dasss sie Tremola heißt, was ich sehr passend für mein Gerüttel auf dem Kopfsteinpflaster finde. Dass ich im Schatten friere und in der Sonne schwitze. Dass es Fische im See ganz oben gibt. Und dass dort Wohnmobile stehen. Reise vor dem Sterben, sonst reisen Deine Erben, steht da, und sie schreiben deine alle klein, denn Höflichkeitsformen sind nicht mehr angebracht, wenn es ums Erben geht, oder vielleicht auch nur um den besten Parkplatz. Und doch lande ich beim Gedanken an ein Wohnmobil und an ein Rennrad auf dem Heckträger, und an einen Sommer, in dem ich auf allen Alpenpässen parkiere, um von dort an hinunter und wieder herauf zu radeln. Wie herrlich, wie sinnlos, doch zum Glück bin ich die erforderlichen zwei Tage von daheim weg, um mein Heimweh schon zu spüren.

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Ich stand zum Mittag auf der Passhöhe, aber am Abend nicht unter diesem Wasserfall, und ich fürchte, ich werde hier etwas nachholen müssen.


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Ticino. Wir folgen dem Fluss nach unten, Meter um Meter vorwärts verschenken wir die kostbare Höhe, wo doch unten all die Menschen sind. Den ganzen Tag über singe ich "Auf die Bahamas oder ins Tessin, Der Teufel weiß am besten, wohin", und ich habe bisher weder den Interpreten nachgeschlagen, noch die Frage, ob Ticino überhaupt Tessin bedeutet. Ich schiebe alle Fragen auf die Zeit, in der ich wieder Internet haben werde, und dann frage ich mich, ob die Zeit, die angeblich alle Wunder heilen soll, mir womöglich auch das Wundern nimmt?

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Das Tal wird breiter, und an den ausfransenden Rändern sieht man, dass sich die Mühe nicht mehr lohnt, wenn genug Platz da ist. Der Duft verschwindet, auch wenn ich noch gemähtes Gras sehe. Irgendwo auf einem Hof steht eine Großpackenpresse, und ein paar Kilometer weiter einer der Traktoren der neuen oberen Mittelklasse, mit einem standesgemäß großen Güllefass, und ich verdamme das nicht, ich fahre selbst allzu gern solche Maschinen und erkenne den Fortschritt in diesem Bereich wirklich an. Nur, der Duft. Das Heu. Nostalgie ist kein guter Ratgeber, doch die industrialisierte Betrachtung gelingt mir nicht.

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Immer noch nicht Italien, aber man fährt hier mit italienischer Gelassenheit. Das ist einerseits schön, weil nicht ganz so rasend schnell, aber diese Gelassenheit scheint sich auch auf das Überleben eines Radfahrers zu erstrecken, und vielleicht verzichte ich dann doch darauf, mir zuviel davon mit nach Hause zu nehmen. Ja, nach Hause. Das Ende naht, und ich darf meine Radelsorgen in Bahnsorgen eintauschen.

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Wir treffen jemanden, der erschöpft ist von einer langen Reise von irgendeiner Region zurück, die ich als irgendwie paradiesisch anmutende Südseedestination im Kopf habe. Tatsächlich vergesse ich den Namen, sobald er ihn erwähnt hat, und mache nur die anerkennend neidische Kopfbewegung, die von mir vermutlich erwartet wird, wenn jemand ganz offensichtlich aus dem Paradies zurückkehren muss.

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Die italienische Grenze. Es dauert, und das ist fast zu schön, um wahr zu sein, keine hundert Meter, bis ich mich in den engen Gassen heillos verfahren habe und mich fluchend in die Schweiz zurückschimpfe. Eine Kuppe noch, und einige Gassen entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung, dann sind wir am See. Die Reise fällt von mir ab. Mein Ziel wird Kaffee. Das Knacksen im Antrieb verschwindet, der Pegel in meiner Wasserflasche wird unerheblich.


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Unsere Herberge in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt. Nur vierhundert Meter höher. Noch einmal treten, noch einmal schwitzen. Dann sitze ich sehr lange in einem Planschbecken, halte abwechselnd eine Kaffeetasse und ein Telefon in der Hand, und antworte auf die zwei Nachrichten, die in dieser Woche an mich gerichtet waren. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, sie berichten von Mais und Kaffee, und sie freuen mich beide sehr. Ich denke über die Nachrichten nach, die von selbst wieder verschwinden, die nur mitteilen und zeigen, wie ich das hier ebenso tue, und wie ich ihnen keinerlei Bedeutung beigemessen habe, und wie ebenso hier die Bedeutung allein bei mir liegt. Am Abend klingt lang, laut und deutlich ein Konzert aus dem Tal herauf. An wen es wohl gerichtet sein mag?


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Ich habe nur eine der vielen Fahrkarten - Streckenbillets, Velo-Tageskarten und Velo-Platzreservierungen sowie eine grenzüberschreitende Fahrkarte für den falschen Tag gekauft, und ausgerechnet für diese grenzüberschreitende Fahrkarte ist keine der beiden Grenzseiten so recht verantwortlich. Ich schenke also ein wenig Geld der Eisenbahn, die uns hoffentlich nach Hause bringen wird, und verbringe dann Zeit mit Warten. Beim Radeln, sage ich, da habe ich immer eine Lösung im Kopf. Ich kann etwas reparieren, ich kann ein wenig länger treten, ich kann einen anderen Weg nehmen. Ich kann etwas tun, und das gibt mir die Zuversicht, anzukommen. Und es gibt die Bahn. Wir beginnen mit einer Straßenbahn, in der schräg gegenüber zwei junge Männer sitzen. Sie sehen aus, als kämen sie von einer sehr anstrengenden Feier, und die Schaffnerin winken sie nur müde weg. Dann kommen zwei Herren von der Polizei, bei denen sie auch kaum ein Augenlid heben. Sie werden durchsucht, sie werden mitgenommen, und wenn ich es richtig verstanden habe, wird man sie über die Grenze zurückbringen. Ich sehe ihnen nicht an, ob sie das zur Kenntnis genommen haben, als mein Blick sie im Getümmel des Bahnhofs verliert. Gute Reise, wünsche ich still.

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Im nächsten Zug treffen wir einen Radler mit ähnlicher Route, der von keinerlei Sorgen zu berichten weiß. Immerhin stelle ich fest, dass trotz seiner Jugend bereits sein Haar lichter wird. Er wird also irgendwann Sonnenbrand auf dem Kopf zum Sorgen haben, während ich mir nur eine kleine, kreisrunde Stelle auf der Schulter verbrannt habe, wo das Trikot ein Loch hat. Ich radle ja, wie eingangs erwähnt, gern mit genutztem Material. Und doch scheint es Zeit zu werden für ein neues Trikot und eine neue Hose. Doch der Schmerz ist schon verflogen, am ersten Tag ohne Sattel, und es bleiben mir die Freude und jede Menger neuer Fragen.

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Problemloses Umsteigen in sieben Minuten, über einen ganzen Bahnhof hinweg, mit Gepäck und Rädern. Es ist eben doch, sage ich mir, die Schweiz.

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Am Zielbahnhof treffen wir Internetmenschen. Es ist nichts Schlechtes daran, ganze Tage mit dem Rad und den eigenen Gedanken zu verbringen, aber es ist viel Schönes daran, mit anderen Menschen zu reden.

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Durch sommerliches Gewühl radeln wir zum Auto. Und ich muss nur eine ganz kleine Ehrenrunde drehen, um diese Reise abzurunden. Fünfhundert Kilometer auf dem Rad. Und nach fünf Minuten im Auto beginnt es zu regnen. Es ist ein schöner Gedanke, Glück zu haben.
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