Dieseldunst
I'd rather be a forest than a street.

04.07.25, 05:00
Wenn ich schon nichts gegen die Schmerzen tun kann, dann wenigstens für die Belohnung. So stehe ich also um Mitternacht in einem Schnellrestaurant und kaufe Eis. Mit diesem und jenem. Und Sauce, natürlich. Hätten sie Sahne gehabt, hätte ich auch die gekauft. Ich fuhr zurück durch die Stadt und klingelte ein zweites Mal an dieser Tür. Normal, so lacht es an der Sprechanlage, kommt keiner zwei Mal am gleichen Tag. Dann Eis. Dann Papiere. Zweieinhalb Kilo; ich fange mit dieser Zahl nichts an, und doch werde ich sie hoffentlich bis an mein Ende mit mir tragen. Plötzlich fühle ich mich auf eine neue Art alleine - mir fehlt jemand, den es bisher noch gar nicht gab. Ich würde gern davonlaufen, laut schreien, mit mir selber klarkommen, doch das ist im Plan nicht vorgesehen. Rollstuhl, Fahrstuhl, Handdesinfektion, gedämpftes Licht. Der Bildschirm größer als der Körper. Ein Anzug mit Haifischen drauf, und ich schäme mich in Grund und Boden, daß nicht ich diesen Anzug gekauft und mitgebracht habe, und bin gleichzeitig in Demut dankbar, daß jemand für mich mitgedacht hat, diesen Haifischanzug gekauft, gewaschen, angezogen, diesen Bildschirm entwickelt und den anderen, der einfach nur die sechsunddreißig Grad anzeigt, die das Bettchen hat. Ich stehe ängstlich still, bis man mich zu sitzen bittet. Ich halte die Hände über meinen Knien, die voller Schichten Dreck sind. Ich bin im Mörtel gekniet beim Mauern, im Dreck gekniet beim Stolpern auf dem Skihang, auf dem Werkstattboden gekniet beim Schweißen. Es tut mir alles leid, und ich wäre ja gern anders, wenn ich nur wüsste, wie. Irgendwann bin ich dran. Angst und bange. Ich rühre keinen Finger, halte den Schlauch fest, der mir als wichtig erklärt wurde, und die ganzen Kabel, die zum Bildschirm führen. Der Puls geht nach oben, die Atemfrequenz nach unten. Die Sauerstoffsättigung fällt von hundert auf neunundneunzig. Mir stockt der Atem, mir bleibt die Luft weg. Vielleicht kannst Du ja atmen, wenn ich die Luft anhalte. Eine gelbe Lampe leuchtet auf, ein regelmäßiges Piepen ertönt, und ich sitze in diesem Stuhl mit festgefrorenen Armen und weiß, ich werde hier sitzen, bis zum Ende aller Zeit, weil es meine Pflicht ist, meine Schuldigkeit und Schuld, und weil Durchhalten das einzige ist, was ich wirklich kann. Vielleicht hast Du das geerbt, denke ich dann, und mit einem Mal spüre ich. Das Bündel Mensch bewegt sich, das Gesicht hat einen Ausdruck. Der Atem hebt die Brust. Die Finger spielen mit dem Verband. Die Beine strampeln. Ich spüre Dich, und ich werde Dich für den Rest meines Lebens spüren, ebenso wie ich mich für den Rest meines Lebens schämen werde für die Zeit, die ich bis hier gebraucht habe. Ich fange zu erzählen an und frage. Ich höre Deiner Antwort zu. Ich streiche über die dünnen Beinchen, dann die Ärmchen, und irgendwann über jeden einzelnen der winzigen Finger. Dein ganzer Kopf passt in meine Hand. Vielleicht hast Du mir zugeblinzelt, doch sicher werde ich nie sein. Ich schaue nicht mehr auf den Bildschirm. Wer braucht denn Bildschirme und ihre Zahlen, wenn er den Herzschlag spüren kann. Es wird zwei. Es wird halb drei. Ich zähle die Stunden, die Du allein verbringen müsstest, wenn ich jetzt ginge. Ich werde hier sitzen bis zum Ende aller Zeit, und doch ganz anders. Die sich auskennen, rufen Schlafenszeit aus, und dann sitze ich da, und wo Du warst, kühle ich aus, als würde ich ausbluten. Mechanisch stehe ich auf. Mechanisch erledige ich den Rest. Ich hätte gern gesungen, fällt mir ein, und Du bist noch keinen Tag alt, da mache ich schon meine Fehler. Ein langer Flur zum Empfang, wo noch einmal Dinge zu erledigen sind. Die offene Tür der Kapelle, wo ich schon einmal saß. Diesmal knie ich, denn darauf kommt es heute auch nicht mehr an. Als ich aufstehe, bleibt Dreck am Boden. Am Ausgang liegt ein Buch aus, das wortlos um Worte bittet. Ich schreibe das Datum. Mein Sohn ist geboren. Es ist ein Wunder. Ich erledige noch einmal Dinge. Ich stehe am anderen Ende des Gebäudes auf dem Hof. Ich singe halblaut auf dem Weg zum Auto, und ich singe von da an aus vollem Hals und heule wie ein Schloßhund. Vielleicht hast Du ja auch das von mir geerbt. Fahr vorsichtig, hat die Hebamme gesagt, Du hast jetzt Grund dazu. Die Straße verschwimmt, doch fahren kann ich immer. Irgendwas kann schließlich jeder.

Rauchzeichen




strelnikov   |   04.07.2025, 08:12   |  
Das ist jetzt eine Langdistanz und keine kurze Spitzenleistung. Da muss man sich die Kraft schon einteilen.
Mitrauchen
 

casino   |   04.07.2025, 08:27   |  
langdistanz stimmt schon, aber manchmal geht es nicht anders, da ist verausgabung angesagt.

freue mich jedenfalls sehr für sie und wünsche nur das allerbeste! ich hoffe sehr sehr, dass alles gut wird.
Mitrauchen
 


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