27.04.25, 16:43
So ein Tag war das, an dem ich sehr lange Zeit auf einem Friedhof verbrachte, zwischen den Gräbern. Einer, der nicht einmal zwanzig werden durfte. Ein kleiner Stein, auf dem ein Plüschtier lag. Ein Ehepaar, fünf Jahre voneinander geboren, fünf Jahre voneinander verstorben, beide wurden fünfundfünfzig, ihr gemeinsames, schmuckloses Grab. Trauersprüche. Berufsbezeichungen. Ein Prof. Dr., der nur sechsundvierzig wurde. Eine Frau, die in sehr hohem Alter vor wenigen Jahren verstorben ist, und auf deren Grabstein ein Andenken an ihren Bruder verzeichnet ist. Eine Gedenkstätte für Vertriebene, die sich hier niederließen. Eine Art Familiengarten für die hiesige Adelsfamilie, auf deren Grabmal noch Platz für Namen wäre - allein, sie sind ausgestorben. Wenige Menschen. Bäume, um die Urnen im Kreis angeordnet sind. Die Steine wie Wegplatten, ich mähe um sie herum, trete darauf, bis ich bemerke, daß einer eine Inschrift trägt, unter ihnen die Urnen. Ich weiß nicht recht, sage ich am Abend dieses Tages zur Pfarrerin, sage ich es laut in ihr Ohr, da vor uns eine Rockband spielt, ich weiß gar nicht recht, bei wem ich um Verzeihung bitten sollte, und sie lächelt. Verblichene Fotos an Grabsteine gelehnt, dahinter oft Plastikvasen gelagert. Eine Frage in Stein gemeißelt, die wohl auf ewig offen bleiben wird: Warum? Ewige Lichter sind selten geworden. Ich wüsste gar nicht, was tun auf einem Friedhof, denke ich, und dann schlage ich der Pfarrerin vor, zur gemeinsamen Gräberpflege aufzurufen, mit anschließender Andacht vielleicht. Natürlich gibt es das längst in ihrer Kirche, und sollte ich noch einmal religiös werden, kenne ich schon jetzt meine Glaubensrichtung. Ich weiß nicht, ob es viele von meiner Sorte gibt, denke ich, die über die Betätigung in die Spiritualität finden, statt über Kontemplation und Gebet. Über den Kampf ins Spiel finden, wenn man so will. Vielleicht bin ich auch nur ein seltener Esel, gerade recht für einen Dorfzoo wie hier, wo die Gemeinde spontan einen Auftrag vergibt und ein Unternehmer ein paar Freunde anruft, und einen Tag lang räumen wir dann zusammen den Friedhof auf, und abends sitzen wir zusammen, trinken Bier und lachen voll Freude ob der eigenen Müdigkeit und der Geschafftheit des Schaffens. Familiengräber, schmale Gräber. Enge Reihen und große Abstände. Ganze Wiesen, wo die Grabstätten schon eingeebnet sind und nur wenige noch einzeln stehen. Ein Stein mit einem gelben Aufkleber, der auf die Gefahr durch einen Umsturz hinweist. Firmenaufkleber von Grabmalherstellern, von Pflegefirmen für Grabmale. Was, wenn keiner einst um mich herum mähen wird? Gräber mit Aussicht, vom Hang und den Terrassen übers Dorf hinweg. Langes Geläut, und am Abend erfahre ich, daß zu jener Zeit in Rom beerdigt wurde. Menschen, die mich fragen, für wen das frisch ausgehobene Grab bestimmt wäre, wo dieser und jener zu finden wäre. Ich weiß es alles nicht, sage ich, und denke, wäre ich ein Geschichtenschreiber, ich würde mich auf den Friedhof stellen. Eine Frau mit großen Taschen, darin allerhand Gartenwerkzeuge. Als die Sonne herauskommt, legt sie ihre Jacke über den Grabstein zum Trocknen, arbeitet bestimmt und geschwind weiter, bis zum Unkraut im Kiesweg. Bänke, auf denen niemand sitzt. Kriegsgräber, auch für die, die fort geblieben sind. Wer um neunzehnhundertundzwanzig geboren wurde, liegt eher hier im Rund, wer zehn Jahre später zur Welt kam, eher im Familiengrab. An der Friedhofsmauer finde ich zwei Inschriften auf Platten. Siebzehnhundertundachtundneunzig, lese ich mühsam aus der Verwitterung. Sie konnte sich sicher nicht vorstellen, daß mehr als zweihundert Jahre später hier jemand stehen könnte, mit einem Akku-Freischneider in den Händen, in grauen Arbeitshosen voll grasgrüner Spritzer, die schweren Schuhe glänzend vom nassen Gras. Eine weitere Inschrift nicht mehr lesbar, und ich frage mich, ob es noch Erinnerung gibt? Du warst das Beste, das mir passieren konnte, lese ich, und von der Liebe, die den Weg zum Himmel sucht, um zurückzuholen, was verlorenging. Viele bemalte kleine Steine. Das Plüschtier kommt mir wieder in den Sinn. Akku wechseln, wir laden an einer Außensteckdose der Aussegnungshalle. Ich war noch nie hier, denke ich, doch dann fallen mir zwei Gelegenheiten ein - ein Freund, der mich eingeladen hatte für den nächsten Tag, den er dann nicht mehr erleben wollte. Ein Freund, der noch ein Stündchen in den Abend schauen wollte, während die Kinder schon schliefen und die Frau zu Bett ging, in das er ihr nie mehr folgen sollte. Ausgerechnet diese beiden Gräber finde ich nicht an diesem Tag. Vielleicht in dem Abschnitt, den ich aufgrund einer anderen Verpflichtung ausgelassen hatte. Von dieser erzähle ich belustigt dem Städter, der als Anhängsel mit zum abendlichen Fest kommt, wie auch ich ein Anhängsel bin, und der vorab mit Informationen versehen wurde, mit denen wir brav ein Gespräch beginnen. Beruf und Freizeit, und alles sehr interessant, sagt er, und dann erzähle ich vom Bullenkastrieren über Mittag, ein letztes Mal wohl mit dem alten Tierarzt, der zu krank ist, um nicht in Rente zu gehen, und dem die Wehmut aus allen Worten dringt. Die schönen Kühe, die er nicht mehr sehen darf. Und als die Zange einmal fast nicht zu schließen ist, da lacht er knitz, weil diese Linie mit besonders starken Samensträngen gesegnet sei. Aus meinem Dorf, sage ich leichthin, denn es kann ja nicht anders sein, als daß bei uns selbst die Rindviecher noch besonders wären. Ein wenig pikiert schaut er dann schon, der Städter, und ich weiß nicht, ob ich heute abend eine große Hilfe war dabei, ihn hier zu ihr aufs Land zu locken. So wende ich mich den alten Freunden zu, den alten Liedern und dem alten, immer neuen Fest. Du kennst weder den Tag noch die Stunde, sage ich und überlege wie immer, ob mir das ein Glück oder eine Drohung ist. Dann spielen sie Angels, wie man das hier so macht, wherever it may take me, I know that life won't break me, und wenig später falle ich ins Bett und denke noch, ob nicht jeder Tag so voll sein könnte, oder ob das unerträglich wäre.
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