Samstag, 15. 02 25
Cui bono und quis moritur.
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Im letzten Jahr, da traf es mich zum ersten Mal. Berichte hatte ich genug gelesen und gehört; Geschichten, die zu Dramen wurden oder zu teuren Komödien, und selbst hatte ich in manchen dieser Geschichten auch schon mitgespielt. Stets als Helfer, manchmal als Retter, und irgendwie ging es immer gut aus. Nicht so bei mir, die Musik auf meiner alten Festplatte war hoffnungslos verloren. Zu viele Dateien, um sie zu retten, und zu wenig Ordnung im Datengrab aus einer Zeit, als man sich noch zum fröhlichen Kopieren traf und mehr immer besser war. Eine irre Sammlung hatte ich da, und darin einen Ordner, der mit "Aktuelles - Eigenes" ebenso knapp wie falsch betitelt war und doch so manches Fest retten konnte. Einen Spitznamen verdanke ich dieser Festplatte, und ungezählte Stunden voller Freude. Was habe ich Menschen kennengelernt, denke ich mir heute, bei denen ich auf Sofas saß und redete, zwischen Flaschen und Aschenbechern inmitten von damals noch verbotenen Pflanzen, als spielten wir einen der amerikanischen Teenagerfilme nach, die sich zu jener Zeit in den Kinos häuften. Irgendwann sind mir die Leute verlorengegangen, und durch die Verfügbarkeit verlor die Musik ihren Wert und ihr Gewicht und ihre Eigenartigkeit ja sowieso. Und dann die Festplatte. Ich ließ sichern, kopieren, reparieren und retten, es half mir alles nichts. Die Festplatte landete beim Elektroschrott, und die vielen, vielen halbgeretteten Dateien wollte ich niemals mehr durchsuchen. Vielleicht hätte ich es doch tun sollen, denke ich mir heute, wo sich so viele Spuren im Netz verloren haben. Es gab einst ein kurzes Liedchen, und die Sängerin schrieb ein Blog, und auf dem Bildchen trug sie rote Haare. Ich habe dieses Liedchen hunderttausend Male gehört, weil es ein sehr großes kleines Liedchen ist. Und auf verschlungenen Wegen fand ich sogar die Seite wieder und die Sängerin, doch die Links sind tot, die Musik verschwunden, und seit fünfzehn Jahren fehlt von ihr selbst gar jede Spur. Mag sein, daß auf den alten Rechnern, die ich noch aufbewahre, wie ich mein achtloses Stehenlassen manchmal verbrämt nenne, noch eine Kopie davon herumliegt, denn Kopieren war mir einst eine Leidenschaft. Und vor lauter Ordnern, Ordnen, Ordnung hatte ich Diverses doppelt, dreifach, unauffindbar. Vielleicht ist auch dafür einmal Zeit, oder auch diese Festplatten finden den Alterstod vorher. Warum soll es ihnen auch besser ergehen als uns, denke ich mir manchmal. Doch heute sitze ich am Schreibtisch, an einem Samstag, den ich vom Korrigieren ausgenommen habe, und habe einen großen Karton neben mir stehen. Und genüsslich nehme ich einen Tonträger nach dem anderen heraus und erinnere mich daran, wie lang ich darauf gewartet habe und wie lang ich um die Ausgabe herumgeschlichen bin, die mir einst groß erschienen. Daß ich schon zwei Mal seitdem zigtausende dieser Tonträger am Stück ausgegeben habe, es ist mir fast nicht glaubhaft zu machen. Und doch waren es gute Zwecke, hinter denen ich bis heute stehen kann. So auch die meisten Tonträger, von denen die ersten noch stolz ein "Digitally remastered" im Titel tragen, als das noch etwas Neues war. Eine Aufnahme eines Konzerts aus dem Jahr 1978, auf einem Tonträger aus den Neunzigern, und ich schaue aus dem Fenster in den Schnee des Jahres 2025. Dazu wippe ich mit den Füßen und dem geschorenen Kopf, damit sich wenigstens nicht alles ändert. Es ist eine wilde Mischung, die aus diesem Karton kommt, um auf ein Neues auf eine Festplatte kopiert zu werden, und ab und zu aktualisiere ich das Archivprogramm und ziehe ein, zwei Lieder in eine Liste, die so nebenbei läuft, während mir der Tag vergeht, wie mir einst so mancher vergangen ist: Umgeben von der Musik, die ich geliebt habe, die ich liebe und lieben werde, die ich vorspielen will und vorsingen werde. Sie erzählt von einer Kindheit und Jugend und davon, wie ich mir einen Geschmack erarbeitet und gebildet habe. Was ich gefunden habe, und für den Kenner sicher auch, was mir verborgen blieb. Wohin es mich zog, worauf mich andere brachten, und ganz nebenbei gebe ich ein wenig mehr Geld aus, für einen dieser guten Zwecke, an die ich noch immer glaube. Ich schließe ein paar Lücken, die mich schmerzen, die mir in Erinnerung geblieben sind, bevor ich die Lücken selbst vergessen kann. Es ist ein wundervoller Abend, warm und leuchtend, und vielleicht trage ich meinen alten Körper mit den ganzen Erinnerungen heute noch dorthin, wo ich mir einst die Ohren verdorben habe, oder ich schließe noch die alten Boxen an, die schon viel zu lang stumm vor sich hin stauben. Ich sammle, woraus ich mich gebaut habe, um vielleicht in diesem Jahr ein klein wenig davon weitergeben zu dürfen. Prägung, sage ich mir, wie einst ich geprägt wurde, und ich weiß heute schon, mit welchem Lied ich dann beginnen werde. Ich werde den Weg der Entwertung meiner Lieder wohl nicht mehr gehen, nicht eintauchen in die Beliebigkeit der femdbestimmten Auswahl, obwohl ich meine liebsten Lieder wohl dem Zufall verdanke. Ich war jemand anderes, ich war auf der Suche, wohin ich gehören könnte. Und noch immer suche ich, doch nun nach dem, was zu mir gehören kann. Ich werde Dir vorsingen, das weiß ich schon.